Tom-Oliver Regenauer | 22.03.2021 | Lesezeit: 10 Minuten
Er wird kommen, voraussichtlich bereits im Juni diesen Jahres. Der EU-weite, digitale Impfpass. Er gilt offiziell als wichtiges Instrument in der Pandemiebekämpfung und soll dabei helfen, den Sommerurlaub 2021 zu retten. Die Gesetzesvorlage wirft jedoch, wie die Impfkampagne selbst, zunächst eine Vielzahl logistischer, rechtlicher und soziopolitischer Fragen auf:
»Durch Vernunft, nicht durch Gewalt, soll man Menschen zur Wahrheit führen.« (Denis Diderot)
Grundlegendstes Prinzip der Sozialpolitik, wie wir sie bisher verstanden haben, ist das Solidaritätsprinzip. Dieses bezieht sich nicht nur auf die Sozialversicherung, sondern auch auf das gesellschaftliche Miteinander und Selbstverständnis.
»Das Solidaritätsprinzip beschreibt die Solidarität als grundlegendes Prinzip der Sozialversicherung. Dies bedeutet, dass ein Bürger nicht allein für sich verantwortlich ist, sondern sich die Mitglieder einer definierten Solidargemeinschaft gegenseitig Hilfe und Unterstützung gewähren.« (Quelle: Wikipedia)
In Bezug auf das Gesundheitswesen implizierte dieses Prinzip bisher auch, dass Menschen, die an einer ansteckenden Krankheit leiden, selbst dafür Sorge tragen, dass sie andere nicht infizieren. Das galt als solidarisch. Sprich, wer eine Grippe hatte, der blieb zu Hause und kurierte sich aus. Bis er nicht mehr ansteckend war. Wer Malaria eingeschleppt hatte, rief das Gesundheitsamt an. Und wer plante in ein Land zu reisen, in dem er Gefahr liefe, sich mit Gelbfieber oder ähnlichem zu infizieren, ließ sich freiwillig impfen – wenn er das Risiko minimieren wollte.
Wer sich in der Abwägung von potenziellen Nebenwirkungen gegen die Vorsorge entschied, konnte sich trotzdem frei bewegen und ausreisen. Es galt der Grundsatz des eigenverantwortlichen Handelns. Und auch wenn die Gelbfieberimpfung zum Beispiel für manch südamerikanisches Land verpflichtend vor der Einreise ist, wurde dies auf meinen zahlreichen Trips in die verschiedenen Länder der Region nie kontrolliert. Ich war zwar geimpft, die Risikobewertung oblag aber am Ende mir, weswegen sich vielleicht auch niemand von offizieller Seite dafür interessiert hat.
Mit dem digitalen Impfpass verändert sich die Definition des Solidaritätsprinzips jetzt signifikant. Es wird quasi ad absurdum geführt. Anstatt dem Einzelnen die Risikobewertung für sein Leben zuzugestehen, ihm Eigenverantwortung und Autonomie innerhalb seiner Solidargemeinschaft zu garantieren, entscheiden nun Politik und Wirtschaft im Namen der Solidargemeinschaft zentral, was dem Wohle des Einzelnen dienlich und damit zu verantworten und solidarisch ist. Eine Umkehr der »Beweislast«, bei der nicht mehr gezielt der kranke Mensch behandelt und ggf. isoliert wird, sondern zunächst jeder unter Generalverdacht steht und seine Unschuld (oder Gesundheit) nachweisen muss, um frei zu sein. Die Grundlage für derartige Entscheidungen liefert auch nicht mehr der Wählerwille, sondern die Wissenschaft. Eine außerparlamentarische Priesterkaste der Neuzeit – die in Zeiten des fortgeschrittenen Kooperatismus kaum unabhängig sein kann. Die ungesunden, finanziellen Verflechtungen von Politik und Pharmaindustrie wurden gerade in den letzten Wochen wieder deutlich sichtbar.
Wer in unserem System davon überzeugt ist, dass die Pharmaindustrie am Wohle des Menschen interessiert ist, der müsste auch glauben, dass die Rüstungsindustrie auf den Weltfrieden hinarbeitet.
Schlussendlich geht es wie immer um Macht und Geld. Und finanzielle Interessen gehen selten mit moralischem, ethischen oder solidarischem Handeln einher. Impfungen, vor allem in kurz aufeinander folgenden Zyklen, sind ein Milliardenmarkt. Wieso sollte es da anders sein? Moral und Solidarität sind gesundheitspolitisch irrelevant.
Die Grundwertekommission der SPD, die in der Regierung heute mitverantwortlich für die desaströse Corona-Politik ist, schreibt in einem umfangreichen Papier zum Thema Solidarität noch im Februar 2019:
»Demokratie will und braucht Freiheit, Offenheit, Verständigung und die Kooperation der Bürgerschaft. Und diese verlangte Sicherheit – materiell-soziale, ebenso wie ideell-psychische, vor allem die Anerkennung des Wertes und der Würde jedes Einzelnen. Diese lässt sich weder polizeilich-militärisch noch kollektiv-politisch erzwingen. Sicherheit gelingt letztlich nur, wenn die Bürgerinnen und Bürger zu Staat und Politik eine grundsätzlich positive Haltung einnehmen, wenn sie die kommunale, nationale und europäische, aber möglichst auch unsere globale Politik als legitim ansehen. Das wiederum verlangt, dass sie daran teilhaben können. Und dass sie sich dabei prinzipiell miteinander verbunden fühlen, dass sie bereit sind, füreinander Verantwortung zu übernehmen, füreinander einzustehen. Identifikation durch Partizipation! Ohne Solidarität gibt es weder Sicherheit noch Freiheit. Wo diese Einsicht verloren geht, entstehen im Großen Brüche, Krisen, Unruhen, Gewalt in der Gesellschaft und im Kleinen Kälte, Rücksichtslosigkeit, Angst und Egoismus. Wenn jeder nur an sich denkt, ist eben nicht an alle gedacht.«
Das würde wohl jeder Demokrat so unterschreiben. Auch wenn von Partizipation in unserem System nicht mehr wirklich die Rede sein kann und die SPD selbst sich für kaum eines ihrer hehren Ziele merklich einsetzt.
Was nötig wäre, um tatsächlich Partizipation herzustellen, sind starke Elemente direkter Demokratie in Deutschland und der EU.
Zudem sind derartige Phrasen beliebig auslegbar, interpretierbar, umdeutbar – und damit bedauernswerterweise immer häufiger Begründung für im Kern antidemokratische Vorhaben. Vor allem Formulierungen zu Solidarität werden in pervertierter Form mittlerweile oft in der Argumentation für autoritäre Vorhaben wie Lockdowns, einen obligatorischen Impfpass oder eine direkte Impfpflicht ins Feld geführt. Der öffentliche Diskurs ist im Prozess, Sprache umzudeuten und stehende Begriffe wie Solidarität mit neuen Werten zu besetzen. Die amtliche Corona-Kommunikation scheint genau das zu unterstützen, anstatt diesen bedenklichen Entwicklungen ausgewogen, vermittelnd und bildend entgegenzuwirken.
Unter anderem deswegen erscheint der Vorwurf des Egoismus in Richtung der Impf-Skeptiker für Impf-Dogmatiker in der Schlussfolgerung logisch. Für sie ist es so auch moralisch akzeptabel, Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen (oder können), zu Menschen zweiter Klasse in unserer Gesellschaftsordnung zu machen. Weil diese sich selbst entscheiden können. Für die Außenseiterrolle – oder die Außenseiterrolle.
Ist es egoistisch, die COVID-19 Impfung abzulehnen? Gefährdet man durch diese Ablehnung die Gesellschaft an sich und ist damit unsolidarisch im Sinne des bisherigen Solidaritätsprinzips? Darf dieses mutmaßlich unsolidarische Verhalten als Begründung für einen Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben herangezogen werden?
Die Antwort muss in Anbetracht des tatsächlichen Risikos, das Corona für die Gesamtbevölkerung darstellt, ganz sicher lauten: Nein. Das ist absurd – und ein fataler Irrglaube der Pandemie.
In der Konsequenz bedeutet diese Feststellung, dass ein verpflichtender, digitaler Impfpass ein intrinsisch unsolidarisches, autoritäres oder gar totalitäres Konzept und Werkzeug ist. Er wird die Bevölkerung an einer weiteren Sollbruchstelle spalten und verstößt gegen grundlegende, sozialpolitische Überzeugungen und Basiswerte aufgeklärter Gesellschaften; nach welchen wir in den westlichen Demokratien in den vergangenen Jahrzehnten versucht haben, unser soziales Zusammenleben zu gestalten.
Der Impfpass fördert die »Beweislastumkehr« für das Solidaritätsprinzip und fordert Konformismus.
Nur wer sich künftig dem geimpften, solidarischen Teil der Gesellschaft anschließt, handelt solidarisch. Wer mitmacht, findet Beifall. Wer aber die Risikobewertung für sein Leben nach bisherigem, philosophischem Verständnis des aufgeklärten Menschen selbst übernehmen will, gilt als Egoist und handelt asozial. Unsolidarisch. Egoistisch. Wer nicht Teil des Clubs, des guten Teams ist – der bleibt draußen. Ungeimpfte kaufen hier nicht ein!
Dieser Linie folgend sind für die Befürworter eines verpflichtenden Impfpasses Privilegien oder Vorteile für Geimpfte ethisch, moralisch und rechtlich mit der demokratischen Idee vereinbar. Und damit einhergehend auch Nachteile und Aberkennung von Grundrechten für Nichtgeimpfte. Damit werden in Stein gemeißelte Grundrechte tatsächlich zu Privilegien, die feudal und temporär gewährt werden. Das steht unserer humanistisch geprägten Definition moderner Rechtsauslegung diametral entgegen. Sich für den Erhalt und die Einhaltung des Grundgesetzes einzusetzen, hat in diesem Kontext nichts mit Egoismus oder Nationalismus zu tun, sondern im Gegenteil mit humanistisch-moralischen Grundüberzeugungen und der Ansicht, dass alle Menschen in diesem Land und auf der Welt gleich und Teil einer Spezies sind. Womit allen ausnahmslos gleiche Rechte zustehen.
Wenn der Impfpass also künftig Voraussetzung für die Wahrnehmung von Grundrechten ist, wenn die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die individuelle Bewegungsfreiheit vom digitalen Impfstatus abhängen, sprechen wir tatsächlich »nur noch« von Privilegien – denn die betroffenen Grundrechte sind in der Folge praktisch wertlos. Entweder das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht auf Reisefreiheit, eines davon wird man aufgeben müssen, will man noch leben wie vor COVID-19.
Und auch wenn die Impfpflicht nicht explizit, gesetzlich verankert, das Wort selbst nicht ausgesprochen wird, so kann doch niemand die Augen davor verschließen, dass der digitale Impfpass diese durch die Hintertüre de facto einführt und unser bisheriges Verständnis des Solidaritätsprinzips auf den Kopf stellt. Eine solche Lösung, ein solcher Prozess teilt die Bevölkerung in »wir« und »die anderen«. Das hatten wir schon. Und es endete grausam.
Was solche Denkmodelle und die Transformation unserer Grundwerte auf lange Sicht mit der Gesellschaft machen werden ist unsicher. China 2.0? Positive Auswirkungen werden Verwässerung der Sprache oder die Entkopplung des gesellschaftspolitischen Handelns von humanistischen Werten und ethisch-moralischen Überzeugungen der Aufklärung für die Zivilisation jedenfalls kaum haben. Eine feudale Zentralisierung von Macht, allwissende Priesterkasten und staatlich erzwungener Konformismus haben dem Individuum in der Vergangenheit selten zum Vorteil gereicht – das sollte die Menschheit aus der Literatur und Geschichte der letzten 150 Jahre gelernt haben.
Die Normalbevölkerung hat Jahrhunderte gebraucht, um sich die Grundrechte in heutiger Form von ihren Herren zu erkämpfen. Daher wäre es fatal, diese nun binnen kürzester Zeit gegen einen Hauch von Sicherheit einzutauschen.