Tom-Oliver Regenauer | 26.03.2025
Einleitung
Die bedeutendste Organisation unserer Zeit verfügt weder über Mittel noch Personal. Selbst für ein Update der eigenen Webseite scheint das Geld zu fehlen. Trotzdem hat sie mehr Einfluss auf den Lauf der Welt als UN, WEF, GAVI, die US-Regierung oder die Philanthropie-Vehikel der »Superclass« (D. Rothkopf, 2008). Denn die Konzepte, die sie vertritt, sind integraler Bestandteil eines jeden Projekts, jeder Agenda, jeder technischen, ökonomischen, sozialen und legislativen Entwicklung unserer Zeit.
Gemeint ist die Technocracy Inc. – eine Bewegung, die 1919 in New York City mit der »Technical Alliance« ihren Anfang nahm und dank der Umtriebe des zwielichtigen Howard Scott ab 1933 landesweit für Aufsehen sorgte. In der Hochphase waren über eine halbe Million Mitglieder in landesweiten Ortsgruppen organisiert, man publizierte ein eigenes Magazin namens »The Technocrat« und machte durch scheinbar progressive Ideen von sich Reden. So interessierten sich bald auch Oligarchen wie die Rockefellers für Scotts technisch noch nicht weiträumig realisierbare Konzepte – denn sie versprachen in finaler Ausprägung ein Herrschaftsmodell zentralisierter Monopole, das Wirtschaft und Gesellschaft abseits zeitaufwändiger demokratischer Prozesse mit Automatismen dominiert. Eine »bedarfsorientierte« Herrschaft der Maschinen.
Nicht umsonst bezeichnete selbst eine Mainstream-Publikation wie The New Yorker die Organisation in einem Artikel vom 19. September 2023 als »quasi-faschistische« Bewegung und wies darauf hin, dass auch der Großvater von Elon Musk, der Technokratie seit Jahren selbst als perfektes Gesellschaftsmodell preist, eine führende Rolle bei der Technocracy Inc. innehatte.
Was in den 1930er Jahren noch nach Zukunftsmusik klang, weil Speicherkapazitäten, Rechenleistung und Übertragungsraten Scotts Konzepten damals nicht gerecht wurden, ist heute bittere Realität. Von der QR-Code-gesteuerten Teilnahme am gesellschaftlichen Leben während der Corona-Krise über die eID und digitale Zahlungssysteme bis hin zum per Smartphone ermittelten CO2-Fußabdruck, der in naher Zukunft die Individualmobilität steuern wird – jetzt funktioniert Technokratie. Und sie greift Raum. Rasant. Weltweit.
Vor diesem Hintergrund habe ich am 5. Juni 2022 meinen Artikel »Ideologie der Zeitenwende« veröffentlicht, der sich sehr kritisch mit der Geschichte und den Konzepten der Technokratie-Bewegung sowie deren Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft beschäftigt.
Umso erstaunter war ich, als besagter Text am 5. November 2022 in englischer Sprache auf der offiziellen Webseite der Technocracy Inc. erschien, die ich zufällig aufrief, um ein Dokument von Howard Scott zu suchen. Ich nahm Kontakt zu den Betreibern der Seite auf und fragte, warum mein Text dort publiziert wurde – und ob Vertreter der Bewegung bereit wären, vor der Kamera über meine Ausführungen zu sprechen. Zu meiner Überraschung waren sie es.
So kam es am 16. Januar 2023 zu einem weltweit einmaligen Gespräch. Denn in jüngerer Vergangenheit sprachen Autoren, Journalisten und Podcaster häufig über die Technocracy Inc., aber nie mit Vertretern dieser Bewegung. Ein Fehler. Denn das Ergebnis der Kontaktaufnahme ist eine respektvolle, offene und bereichernde Konversation, die verdeutlicht, dass deren Teilnehmer in der Analyse des Ist-Zustandes weithin konform gehen: Das herrschende System des hegemonialen Krisen- und Überwachungskorporatismus – der »Corporate States of America« – ist von Grund auf korrupt und muss ersetzt werden.
Sobald es jedoch um Lösungen und den Soll-Zustand geht, wird klar, dass Jill Lepore vom New Yorker mit ihrer Einschätzung vom September 2023 richtig lag. Lediglich das »quasi« sollte sie vielleicht noch streichen.
Gespräch
Tom: Meine Damen und Herren, herzlich willkommen zur heutigen Folge und Konversation. Mein Name ist Tom-Oliver Regenauer – und wir zeichnen diese Sendung am 16. Januar 2023 auf. Das Thema unseres heutigen Gesprächs ist Technokratie. Der Grund dafür ist, dass ich 2022 einen ausführlichen Artikel über die Geschichte der Technokratiebewegung und die möglichen Auswirkungen dieses Governance-Modells auf die Gesellschaft veröffentlicht habe. Denn dazu gibt es viele Bedenken und Diskussionen. Anstatt nur über Technokratie zu sprechen und zu schreiben, freue ich mich sehr, heute zwei Vertreter der Technocracy Inc. aus den USA begrüßen zu dürfen, die bereit sind, mit mir über das Thema und meinen auch auf der Webseite der Technocracy Inc. veröffentlichten Artikel zu sprechen – der dort, übersetzt auf Englisch, weiterhin verfügbar ist. Ich werde den Link dazu unter dem Video einfügen. Zu Beginn wäre es vielleicht gut, wenn ihr beiden euch vorstellt und das Publikum begrüßt.
Justin: Hi. Mein Name ist Justin Lazarra. Ich bin der aktuelle Präsident der Technocracy Inc. Wie geht’s euch?
Tom: Danke, dass du dabei bist.
Charmie: Mein Name ist Charmie. Ich lagere all die historischen Dokumente, archiviere und digitalisiere sie. Ich habe also eine ganze Menge der alten Unterlagen angeschaut.
Tom: Vielen Dank. Das ist tatsächlich auch ein guter Ausgangspunkt. Denn ich wollte verstehen, was die derzeitige Rollenverteilung oder Personalsituation in der Organisation ist. Es begann ja schon 1919 mit der Gründung der Technical Alliance in New York, die dann 1933 zu der Technocracy Inc. wurde, die ihr heute repräsentiert. Charmie, du sagtest gerade, dass du im Wesentlichen historische Dokumente konsolidierst und archivierst. Könntest du kurz erläutern, was heutzutage den Verantwortungsbereich eurer beiden Rollen umfasst?
Charmie: Als Archivarin verwalte ich ein Archiv von sechs auf neun Metern. Also 110 Quadratmeter – ob das in Metern korrekt ist, weiß ich nicht (lacht). Es ist voller Dokumente und historischer Archivalien. Ich arbeite daran. Es gibt Hunderttausende von Originaldokumenten aus all den verschiedenen Abteilungen. Jetzt wurden diese in einer einzigen Archiveinheit zusammengefasst. Meine Aufgabe besteht darin, alles einzeln durchzugehen, Duplikate zu entfernen und alles durchzusehen. Manchmal bin ich aber so sehr damit beschäftigt, die darin enthaltenen Konzepte und Vorschläge zu lesen, dass ich sehr lange brauche, um etwas zu digitalisieren.
Tom: Das heißt, du verfügst dort über die tatsächlichen Originaldokumente von Howard Scott – und sogar jene der noch früher gegründeten Technical Alliance?
Charmie: Ja.
Tom: Das ist faszinierend. Das ist also ein ziemlich Schatz.
Charmie: Ja.
Tom: Gibt es noch an anderer Stelle Unterlagen? In Museen oder Archiven? Oder liegt das nun alles in dieser zentralen Einheit bei dir?
Justin: Nein. Das ist aber das Ziel. Das Ziel ist, es irgendwann zu streuen, damit jeder einen Blick darauf werfen kann. Wir versuchen derzeit, alles zu digitalisieren.
Charmie: An der Universität von Alberta und im dortigen Museum gibt es viele Dokumente aus den kanadischen Ortsgruppen. Da gibt es auch ein Museum. In ganz Kanda gibt es einige.
Tom: Es gab ja auch euer Magazin The Technocrat, das über viele Jahre hinweg publiziert wurde. Ich schätze, das findet man dann auch in deinem Archiv?
Charmie: Wir haben jede einzelne Ausgabe davon.
Tom: Interessant. Irgendwann würde ich das gerne mal anschauen, weil ich natürlich viel dazu recherchiert habe – aber leider immer online, weil man hierzulande nicht an physische Exemplare kommt. Das würde mich wirklich interessieren.
Charmie: Ich habe sogar welche aus dem Jahr 1925. Zu der Zeit hatten die bereits eine Zeitschrift, die sie verteilten. Sie ist sehr klein und man sieht, dass es sich um eine recht grobe Drucktechnik aus dem Jahr 1925 handelte. Aber trotzdem ist es irgendwie hübsch. Wenn du nächstes Jahr noch einmal fragst, wird alles bei Justin in Kalifornien sein.
Tom: Verstehe. Das bringt mich zu dir, Justin. Was ist deine Rolle als Präsident? Wie kann ich mir das vorstellen? Kann man sagen, dass die Kernaufgabe der heutigen Technocracy Inc. in der Verwaltung des Archivs, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit besteht? Oder was ist dein tatsächlicher Aufgabenbereich als Präsident?
Justin: Der Schwerpunkt liegt derzeit auf der Archivierung und der anschließenden Veröffentlichung und Verbreitung, um so die Organisation durch neue Interessenten wiederzubeleben. Die Technocracy Inc. hatte stets viel gedrucktes Material, um Werbung für ihre Ideen zu machen, aber nie wirklich digitale Medien. Bis auf ein paar Screenshots gab es nichts. Es war schon immer eher eine hochintellektuelle, stark auf Print fokussierte Institution. Manche Kinder der Technokratie-Bewegung – wie ich sie gerne nenne – zum Beispiel das Venus-Projekt oder die Zeitgeist-Bewegung, sind digital deutlich präsenter und haben nicht so viel bedrucktes Papier, das man lesen und verdauen muss. Die legten ihren Fokus praktisch auf das Gegenteil.
Charmie: Ja. Und beide Gruppen haben den Umfang dessen, was Technokratie ursprünglich repräsentierte, verändert. In beiden Organisationen ging es eher darum, wie man damit Geld verdienen kann. Das werden wir in der Technokratie aber nicht. Das ist eine Sache, die ich unbedingt klarstellen wollte. Denn viele haben die Grundidee verfälscht, um sie entweder zur Kontrolle, zum Geldverdienen oder zur Machtausübung zu missbrauchen. Das aber sind nicht die Ziele, mit denen die Technokratiebewegung angetreten ist, sondern das, was andere daraus gemacht haben. Wie ich Justin heute Morgen schrieb und in den Notizen, die ich mir zu deinem Artikel gemacht habe, notierte, kann Technocracy Incorporated nicht für die Korruption und Verfälschung ihrer Ideen verantwortlich gemacht werden – genau wie Albert Einstein nicht für die Atombombe verantwortlich gemacht werden kann, nur weil er sagte, man könne aus einem winzigen Punkt viel Energie gewinnen. Es liegt ja nicht in unserer Verantwortung, was andere Menschen aus unseren Konzepten machen.
Tom: Das ist ein guter Punkt. Denn ich wollte kurz darauf eingehen, was wir vor der Aufzeichnung dieses Gesprächs angerissen haben: Meinen Artikel. Das ist ja ein sehr kritischer Beitrag zu der Art Technokratie, die heutzutage in den Medien angepriesen wird. Dezidierte Kritik also. Daher schätze ich es sehr, dass ihr beide bereit seid, diesen Artikel und die darin aufgeworfenen Fragen zu diskutieren – und das sogar per Video. Das ist es, was die heutige Gesellschaft dringend braucht. Denn Menschen meiden mittlerweile jegliche Auseinandersetzung mit Kritik. Es wird eher versucht, kritische Stimmen mundtot zu machen. Umso dankbarer bin ich, dass mein Artikel auch auf eurer Webseite veröffentlicht wurde und ihr euch die Zeit für so ein Gespräch nehmt. Das bringt mich zu meiner Frage: Warum habt ihr diesen Artikel denn überhaupt veröffentlicht? Wie kommt man dazu, ganz anders zu reagieren als vergleichbare Organisationen, die sich mit Kritik konfrontiert sehen?
Charmie: Nun, das war meine Entscheidung. Ich bin seit 2005 in der Technokratiebewegung und recherchiere einfach, was andere Leute dazu sagen. Der Grund, warum ich deinen Artikel veröffentlicht habe, ist, dass er nicht nur aus Panikmache bestand – wie es bei vielen anderen Autoren ist. Er enthielt Informationen. Beim Lesen schwankte ich zwischen Zustimmung – ja, das stimmt – und Ablehnung – nein, das ist eine der missbräuchlichen Auslegungen. Aber der Artikel beinhaltete gute Punkte. Du hast sauber recherchiert. Manches war natürlich falsch oder ist eines der gängigen Vorurteile. Denn Technocracy Inc. ist nicht das, was man heute gern als Technokratie bezeichnet. Die ursprüngliche Idee der Bewegung war, wissenschaftsbasierte Entscheidungsprozesse zu etablieren. Das soll nicht bedeuten, dass die Wissenschaft dein Leben bestimmt. Das war nie der Plan. Es ging darum, Logik und Wissenschaft zu nutzen, um das Beste für Umwelt, Mensch und Gesellschaft zu erreichen. Damit nicht einfach nur emotionsbasiert entschieden wird. Deshalb dachte ich mir, ich stelle den Artikel online. Weil eben viele Menschen negativ über Technokratie sprechen – vielleicht möchte aber mal jemand mit uns darüber reden. Über die wahre Geschichte.
Tom: Wenn ich mir Dokumente aus den 1930er Jahren anschaue, als die Technokratiebewegung gerade richtig Fahrt aufnahm, stoße ich auch auf Schriften wie »Social Reconstruction« von Bertrand Russel (1916), der schon damals von »sozialem Umbau« und »wissenschaftlicher Regierung« schrieb. Von einer Weltregierung und eine Weltarmee. Das klingt im Vergleich zu dem, was wir heute als Demokratie kennen, recht beängstigend. Und auf der philosophischen Seite haben wir Friedrich Nitzsche, der von der »souveränen Autonomie des Individuums« sprach, das als freies Wesen auf diesem Planeten leben soll. Man kann viele Querverbindungen herstellen, studiert man Schriften des frühen 20. Jahrhunderts. Seither sind eine ganze Menge Ideen im Umlauf. Und ich hoffe, wir kommen gleich noch zu den Punkten, die ich deiner Meinung nach nicht korrekt dargestellt habe.
Charmie: Ich möchte auf einen Punkt eingehen, den du gerade angesprochen hast: die Weltregierung. Ich weiß aus all den Unterlagen, die ich gelesen habe, dass Technocracy Inc. ein Konzept für Nordamerika hatte und es der Gruppe im weiteren Sinne darum ging, Ressourcen zu teilen und zu bündeln, damit sie allen Menschen zugute kommen. Damit wir arme Länder unterstützen können – und die wiederum uns. Es war ein kollaboratives Konzept. Es ging nicht darum, alles an sich zu reißen und alle zu kontrollieren. Es ging um eine gänzlich andere Denkweise als die, die heute hineininterpretiert wird.
Tom: Das nahm jetzt auch eher Bezug auf Bertrand Russells »Social Reconstruction«. Wie du sagtest, begann Technokratie als Bewegung zur Reduzierung von Verschwendung und Überproduktion in Nordamerika. Grundsätzlich ein guter Ansatz, der sich irgendwann in den gesamten USA herumsprach. Ich denke aber, dass es schon in den frühen Dokumenten Ansätze zur Überwindung des politischen Systems gibt. Wenn man sich die Links-Rechts-Dialektik ansieht – die heute Dreh- und Angelpunkt politischer Diskurse ist – verursacht diese ja tatsächlich Probleme. Denn die Menschen unterhalten sich nun ausschließlich darüber, anstatt über Sachfragen und Lösungen. So kann ich dem diesbezüglichen Ansatz der Technokratiebewegung durchaus positive Aspekte abgewinnen.
Aber ich habe eben auch die negativen Seiten beleuchtet. Und wenn ihr sagt, die Ideen hätten sich im Lauf der Zeit weiterentwickelt, oder wurden pervertiert, wäre es ja zunächst wichtig zu verstehen, wie sich die Ideen der Technocracy Inc. in den 1930 Jahren überhaupt entwickelt haben. Und für was stehen sie heute? Betrachtet man Produktion – und Überproduktion – produzieren wir heute ja wahrscheinlich mehr Müll als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Bisher hat das also nicht wirklich funktioniert. Wie seht ihr das? Und wie hat sich die grundlegende Idee aus den 1930ern im Lauf der Zeit entwickelt?
Justin: Ich denke, was du in deinem Artikel beschreibst, ist Technokratie, wie man sie heute sieht. Und wenn das alles wäre, aus was dein Artikel besteht, würden wir heute wohl kein Gespräch darüber führen. Du hast aber auch den Ursprung der Bewegung beschrieben und auf die ursprünglichen Ideen verwiesen. Im Kern ging es bei Technokratie nämlich eher um das Energiezertifikatsystem, also eine andere Art der Güterverteilung, um gerechter und effizienter zu sein und den Menschen mehr Freizeit zuzugestehen. Würden die Ideen der Technokratie wirklich umgesetzt, gäbe es nicht diese übermäßige Verschwendung, sondern Hypereffizienz und sehr wenig Abfall – und die Menschen hätten deutlich mehr Freizeit. Die Technokraten warben dafür, dass an vier Tagen der Woche vier Stunden gearbeitet wird. Den Rest der Woche kann man tun und lassen, was man will.
Tom: In puncto Work-Life-Balance wäre das eine schöne Sache.
Justin: Ja, das wäre es. Darüber hinaus sollte ein Großteil der Produktion auf tatsächlicher Nachfrage basieren. Im Rahmen von Erhebungen würde man in Erfahrung bringen, wie viele T-Shirts oder Äpfel jemand im Monat zu kaufen gedenkt, um so Produktion und Prognosen an die aktuellen Prozesse von Unternehmen anzupassen. Bislang scheitert das natürlich daran, dass man mit mehr verkauften Einheiten auch mehr Geld verdient. Es geht stets um Gewinnmaximierung. Alle modernen Unternehmen konzentrieren sich auf Effizienz. Aber nur, um mehr Geld und mehr Gewinn zu machen. Technokratie dagegen konzentriert sich auf Energieeffizienz. Darauf, nicht zu viel Energie und Ressourcen zu verschwenden, wenn davon nur begrenzte Mengen zur Verfügung stehen.
Tom: Ja, die Gier steht immer im Mittelpunkt. Kapitalismus, nun, wie soll man sagen …
Justin: Zersetzt mit seiner Korruption alles? (Lacht).
Tom: Ja. Sozusagen. Aber vom philosophischen Standpunkt aus könnte man argumentieren, dass es selbst in einer Technokratie wie ihr sie beschreibt immer noch Gier gäbe. Das ist wohl einfach eine menschliche Eigenschaft. Irgendjemand wäre immer gierig.
Justin: Jedes System ist nur so gut wie seine Prinzipien und deren Einhaltung. Schauen wir uns das heutige Russland an, gibt es dort massive Probleme mit Korruption. Die russische Armee zieht mit kugelsicheren Westen aus Papier in den Krieg, anstatt mit echten. Und das liegt an Korruption in einer kaputten Welt. Ähnliches beobachten wir in China, wo gierige Kriegsherren verschiedener Fraktionen so viel Reichtum und Macht wie möglich anhäufen, ohne irgendeine Loyalität gegenüber dem Staat und seinen Prinzipien. Ohne Moral ist also jedes System wertlos.
Tom: Für alle, die Technokratie als Konzept nicht kennen, wäre es vielleicht hilfreich, wenn du kurz beschreiben könntest, was Technokratie in Bezug auf Regierung bedeutet. Gäbe es in der Technokratie noch eine demokratisch gewählte Regierung, wie wir sie heute kennen? Oder gäbe es nur noch die Regionen, die sogenannten Chapter, die von Experten gesteuert werden? Wie muss man sich die Führung eines Landes vorstellen? Wie in Demokratien, die mit Wahlen einen Bottom-up-Ansatz bieten, um Repräsentanten für die eigenen politischen Ziele und Ideen auszuwählen?
Justin: Ich denke, es gibt zwei Seiten. Da wäre zum einen die Energieverwaltung, die einen großen Teil der Regierung ausmacht. Der andere Teil würde sich um menschliche Belange kümmern. Technokratie ist eben nur ein System. Deshalb vermeiden wir den Begriff politische Partei. Denn man könnte unser System auf verschiedene Ideologien anwenden – und damit durchkommen. Auch eine mormonische Technokratie wäre denkbar. Man würde dann das System Technokratie verwenden, um soziale Werte mormonischer Ideologie durchzusetzen. Theoretisch könnte man Technokratie also auf jeden beliebigen sozialen Kodex anwenden. Und es würde funktionieren. Du hast ja zum Beispiel auch von Transhumanismus geschrieben. Die könnten natürlich auch eigene kleine, hypereffiziente Gemeinschaften gründen. Mit ihren ganz eigenen Vorstellungen von Perfektion. Es kommt also immer darauf an, wie man denkt. Denn im Kern steht Technokratie als System für Hypereffizienz. Der soziale Kodex lässt sich beliebig zuschreiben. Was du in deinem Artikel ansprichst, ist Technokratie, wie man sie heute versteht – als System, das mit dem Kapitalismus verschmolzen ist. Deswegen hat der Begriff heute eine negative Konnotation. Denn es wird überall auf der Welt versucht, mit Hypereffizienz Hyperprofite zu generieren.
Tom: Charmie, wolltest du dem etwas hinzufügen?
Charmie: Nein, ist okay. Ich werde ein anderes Mal darauf zurückkommen. Ich finde, was Justin gesagt hat, war sehr, sehr gut.
Tom: Eine andere Frage, die ich hatte, war, ob euch weitere Journalisten kontaktiert haben. Hat irgendjemand mal den Wunsch geäußert, mit euch zu sprechen? Es schreiben ja viele über Technokratie – aber hat wirklich mal jemand eine Anfrage für ein Interview geschickt?
Charmie: Ich betreue die auf der Webseite angegebene Telefonnummer und auch die E-Mails. Vor ein zwei Monaten riefen mich mehrere langjährige Mitglieder an und erzählten, es gäbe da jemanden, der versucht, ein Interview mit ihnen zu führen. Daraufhin habe ich allen Mitgliedern gesagt, sie sollen dieser Person meine Nummer geben, damit ich einen Termin mit ihr vereinbaren kann. Es sollte ja ein Interview mit der Technocracy Inc. werden. Aber die Person rief nie an. Er, oder sie – und ich denke, ich weiß, wer es war – beauftragte stattdessen diverse Kameramänner damit, Aufnahmen zu machen. Einer davon tauchte bei einem Mitglied auf, das Demenz hat. Als der Mann die Tür öffnete, hielt man ihm die Kamera ins Gesicht und begann, Fragen zu stellen. Ohne, dass das Mitglied überhaupt wusste, was los ist. So etwas ist in den letzten fünf Jahren wahrscheinlich drei- oder viermal passiert. Da versuchen Leute, über die Technocracy Inc. zu berichten, meiden es aber, mit mir Kontakt aufzunehmen. Dabei bin ich offen für Gespräche. Ich habe immer dafür geworben, dass wir offen für Gespräche sind und Interessenten gesagt, sie sollen mit der Organisation selbst sprechen. Getan haben sie es nie. Du warst der Erste, der uns direkt kontaktiert hat.
Justin: Die versuchen, Bücher zu verkaufen. Darum geht es denen. Wenn sie mit uns sprechen, schreddere ich deren Bücher und sie verkaufen nichts mehr. Und das ist schlechter Kapitalismus (lacht).
Tom: Ich wollte fragen, Justin, ob das, was du gerade beschrieben hast, nicht gewisse Risiken birgt. Denn will man etwas effizienter gestalten, zum Beispiel die Produktion oder die Lieferkette, so wie bei Just-in-time-Lieferungen und On-Demand-Produktion, ist das System im Ergebnis immer recht fragil. Wenn ein Zahnrad nicht perfekt ins andere greift, geht schnell gar nichts mehr. Zumindest temporär. Das ist also ein Risiko. Bezieht man dieses nun auf die Domäne Transhumanismus, die sich im Kern gegen die organische Evolution des Lebens richtet und die Welt durch Technologie optimieren möchte, glaubst du dann nicht, dass die Gefahr besteht, dass wir das Menschliche einbüßen und irgendwann von Maschinen beherrscht werden? Man muss sich ja nur die Jugendlichen (und alle anderen) anschauen, die permanent das Smartphone im Gesicht haben. Die benehmen sich doch jetzt schon wie Zombies. Anstatt die Stadt wahrzunehmen, um sich zu orientieren, benötigen sie Google Maps, um den Bahnhof wiederzufinden – weil sie sich an nichts erinnern, das sie auf dem Hinweg hätten wahrnehmen können. Ist das nicht ein Risiko? Ist ein technokratisches System, das sich von Software und Prognosemodellen abhängig macht, nicht ein Risiko für Mensch, Natur und Gesellschaft?
Justin: Zuerst zur Effizienz: Ein gutes, effektives System sollte einen Puffer haben, Überschüsse, auf die man zurückgreifen kann. In einem gut geplanten technokratischen System wäre das der Fall. Man sollte für so etwas wie Covid vorsorgen, damit im Falle einer Pandemie ausreichend Vorräte vorhanden sind, um alles für ein Jahr oder länger zu bedienen. Dass diese Vorräte nicht vorhanden waren, ist schlicht auf schlechtes Management und Gier zurückzuführen. Viele Unternehmen wollen keine hohen Überschüsse haben, weil sie darauf Steuern zahlen müssen. Und das ist unrentabel. Ich denke, in einem kapitalistischen System ist man eher geneigt, auf solche Reserven zu verzichten, weil man sich Sorgen um Gewinnspannen und Steuern macht. In einem technokratischen System dagegen würde ein guter Planer dafür sorgen, dass im Falle eines Erdbebens, eines Feuers oder einer anderen Notlage genug Vorräte zur Hand sind, um alle zu versorgen.
In Bezug auf die Entmenschlichung durch Hypereffizienz: Da komme ich noch einmal auf das zurück was ich bereits über Moral gesagt habe. Wenn eine Gesellschaft keine Moral hat, dann ist ihr das Einzelschicksal von Joe egal. Es interessiert niemanden, dass er eine Familie hat. Das einzige, was dann interessiert, ist, dass er möglichst schnell in seinem Amazon-Lieferwagen kommt und so viele Pakete wie möglich ausliefert, um den Gewinn zu maximieren. Und dafür muss man ihn natürlich auf Schritt und Tritt per Computer überwachen.
Tom: Ich meinte das aus einer anderen Perspektive. Als 2007 das Smartphone eingeführt wurde, hat uns niemand erklärt, wie wir damit umgehen sollen. Wir alle sind heute gut mit der Technologie vertraut, die wir – zumindest viele – durch Smartphones steuern, aber wir gehen nicht rational damit um. Der Mensch kann mit seinen technologischen Entwicklungen nicht Schritt halten. Weil niemand uns erklärt, wie wir sie nutzen sollen. Das Ergebnis dessen ist, dass die menschliche Gehirnkapazität messbar von 16 Sekunden auf 11 bis 12 Sekunden gesunken ist. In gerade einmal 15 Jahren. Daher vertrete ich den Standpunkt, dass wir uns als Spezies massiven Gefahren aussetzen, wenn wir die Welt automatisieren, sich alles um Hypereffizienz dreht und die Verwaltung durch Computer und Maschinen zentralisiert wird. Besteht aus deiner Sicht nicht die Gefahr, dass wir in einem kollektivistischen Ansatz enden? So wie bei den Borg – wo wir alle von einem großen Computer verwaltet werden?
Justin: Ich denke, Fortschritt birgt immer Risiken. Bei Mobiltelefonen handelt es sich um eine neue Technologie, über die wir noch nicht viel wissen. Es ist beispielsweise bereits untersucht worden, dass Smartphone-Nutzung eine Dopamin-Reaktion auslöst und süchtig macht. Smartphone-Nutzung hat also Eigenschaften, die dem Drogenkonsum ähneln. Das müssen wir anerkennen. Und dann müssen wir Menschen beibringen, auf ihre Bildschirmzeit zu achten, weil Smartphones das Gehirn schädigen und negative Effekte haben. Es ist wie mit Fast Food: Fast Food kann hilfreich sein, wenn man in Eile ist und etwas essen muss. Aber wer ständig Fast Food isst, wird dick. Das ist sehr ungesund. Jede neue Technologie hat eine Anlaufphase, in der man ihre Vor- und Nachteile analysieren und lernen muss, sie richtig einzusetzen. Ich denke, das ist bei vielen neuen Technologien der Fall. Bei manchen Dingen, die uns präsentiert werden, denke ich, es gibt irgendwie zwei Arten von Ingenieuren – ich bin der eine Typ und habe mit dem anderen zu tun. Zum einen gibt es die Hochschul-Ingenieure, die tolle Ideen haben und großartige Dinge entwickeln. Zum anderen gibt es Außendienst-Ingenieure wie mich, die sie tatsächlich verwenden müssen. Und meistens bin ich es, der sich danach meldet und sagt, dass man etwas anpassen muss, weil es in dieser Funktion nicht praktikabel ist. Die benötigen diesen Input. Dann optimieren sie. Das ist Teil des Entwicklungsprozesses neuer Technologien.
Ich denke aber, die Entmenschlichung hat eher mit einem Verfall gesellschaftlicher Werte zu tun. Und ich glaube nicht, dass das mit einem Managementsystem wie Technokratie zu tun hat. Ich denke, ein Managementsystem könnte ein paar dieser Dinge verursachen. Jemand mit wahrhaftigen menschlichen Werten sollte das System aber nicht missbrauchen, sondern sagen: Frank sollte wirklich nur acht Stunden arbeiten. Oder vielleicht sechs. Oder vier. Damit er mehr Zeit mit seinen Kindern und seiner Frau verbringen kann. Denn das schafft eine funktionierende, gesündere Gesellschaft. Moral sollte das alles regeln können.
Charmie: Justins Punkt, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen, bringt mich zurück zum vorherigen Punkt. Zu Gier. Denn Gier entsteht oft aus der Angst heraus, nicht genug zu haben. Aber wenn man sich in seiner Kindheit sicher, geborgen und geliebt fühlt, ist man nicht anfällig für Gier. Manche Menschen sind natürlich schlicht von Natur aus gierig. Das ist einfach so. Aber in einer Gesellschaft, in der für die Bedürfnisse gesorgt wird – für die Grundbedürfnisse Liebe, Nahrung und Bildung – dürfte es viel weniger Korruption geben, die eine inhärente Folge der Gier ist.
Tom: Das mit der Moral kann ich nachvollziehen. Danke für die Erklärung, Justin. Ja, es wäre wünschenswert, wenn wir einen Moralkatalog und eine vernünftige Herangehensweise in Bezug auf das gesellschaftliche Zusammenleben hätten. Aber selbst in einer Demokratie – und das sage ich aus der Perspektive der Schweiz, wo ich seit zwölf Jahren lebe – herrscht, wie in meiner Heimat Deutschland, eine hochgradig korrupte Ordnung, obwohl es einen moralischen Kodex gibt und ein politisches System, das den Bürger repräsentieren soll. Aber letztendlich ist auch das ein sehr korruptes, korporatistisches System, wie auch immer man es nennen mag, bei dem die Macht in den Händen einiger weniger liegt. Wenn ich Literatur über Technokratie lese, erscheint es mir, dass die sogenannten Panikmacher genau davor Angst haben: Dass Technokratie letztlich zwar das korrupte Links-Rechts-Parteienparadigma beendet, also weniger Staat bedeutet, aber dennoch eine Machtkonzentration in den Händen weniger verursacht, die dann über die Produktionsmittel des Einzelnen, die individuelle Freiheit und vielleicht auch die Individualmobilität entscheiden.
Das spiegelt sich auch in der heutigen Diskussion über CO2-Tracking und -Management beim Thema Klima wider. Diesbezüglich wird die Idee diskutiert, jedem Bürger ein persönliches Budget von etwa drei Tonnen CO2 pro Jahr zur Verfügung zu stellen, das er verbrauchen kann, während zusätzliches Budget gekauft werden muss. Das würde für die meisten Menschen bedeuten, dass sie in einer 15-Minuten-Stadt leben müssten – wie ebenfalls diskutiert wird. Diese Stadt können sie nie verlassen. Oder nur zu klar reglementierten Urlaubsreisen. Spiegelt gerade diese CO2-Diskussion nicht irgendwie wider, worum es bei Technokratie geht? Um Steuerung? Genau das ist doch die Sorge vieler Menschen. Die zentrale Steuerung des Energieverbrauchs einer Person würde im Grunde deren Freiheit einschränken, wenn sie zum Beispiel das Haus nicht mehr verlassen kann, weil das CO2-Budget verbraucht ist.
Justin: Wenn du über CO2-Emissionen spricht, von denen insbesondere Entwicklungsländer überproportional betroffen sind, muss man sowohl heute als auch in einer Technokratie diskutieren, dass der Westen, der Schuld an dieser Situation ist, nun auch einen größeren Teil der Last tragen und etwas leiden muss, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Man kann das also so sehen, dass man die Freiheiten von Menschen im Westen einschränkt – ja – aber das ist der Preis dafür, Widergutmachung in der Nachbarschaft unserer Opfer zu leisten. Das mag Freiheiten, Sozialleistungen und vielleicht auch den Lebensstandard leicht beeinträchtigen. Macht man es richtig, sollte diese Einschränkung sehr geringfügig sein. Wenn man es falsch macht, ist das anders. Ja, das könnte sein. Es könnte wie in einem dystopischen Roman enden. Der Westen könnte aber beispielsweise auch einfach entscheiden, weniger Auto zu fahren. Man schränkt so zwar die Freiheiten der Menschen ein, hat aber gleichzeitig positive Auswirkungen auf die Menschen in Entwicklungsländern und fängt zum Beispiel das Leid durch Überschwemmungen in Pakistan ab. Die Menschen, die unter den Überschwemmungen in Pakistan und dem Klimawandel leiden, haben das Problem vielleicht mit verursacht, aber längst nicht in solch einem Ausmaß wie entwickelte Regionen mit ihren Fabriken und Industrien. Diese Orte tragen folglich mehr Schuld, sollten also auch helfen, die Probleme zu lösen. Das müssen sie entweder mit Geld oder mit Produktionsmitteln tun, indem sie Ressourcen für diese Menschen bereitstellen. Wenn man versucht, die Situation zu verbessern, werden die Freiheiten also auf jeden Fall eingeschränkt, egal welches System man nutzt.
Wenn eine Technokratie gut geplant ist, sollte man – wie zum Beispiel dieser australische Ingenieur aus Dänemark es nennt – hedonistischen Überfluss haben. Das ist sehr witzig. Hedonistischer Überfluss. Man sollte also signifikanten Überfluss generieren. Wenn man das System richtig umsetzt, sollte man ein solches Maß an Sättigung erreichen können, dass sich niemand mehr Sorgen machen muss. Ob genug Medikamente da sind, oder Benzin für das Auto, darüber muss man sich keine Sorgen machen, wenn das System richtig umgesetzt wird. Niemand sollte sich Sorgen um die medizinische Versorgung machen. Niemand sollte sich Sorgen machen, ob seine Familie genug zu essen hat oder ob er die Heizung im Haus anschalten kann. Das mit der Energie sorgt ja gerade für eine massive Krise in Europa. So etwas sollte kein Problem sein, wenn die Dinge richtig geplant und umgesetzt werden. Niemand hat ein Problem mit Russland vorhergesehen. Also plante man auch nicht, Erdgasvorräte anzulegen oder die Atomkraftwerke, die man vorher hatte, bereitzuhalten, was angesichts eines Konflikts mit Russland klug gewesen wäre. Stattdessen verließ man sich darauf, dass sich alles irgendwie von alleine regelt.
Tom: Das bedeutet demnach, dass zum Beispiel das CO2-Management der Idee nach auf die Konzepte der Technokratiebewegung zurückzuführen ist, die den Energieverbrauch des Landes, der Gesellschaft und damit auch des einzelnen zentral steuern will – korrekt?
Justin: Ja. Aber das Kernkonzept der Technokratie basiert auf der Annahme, unbegrenzte Mengen von Energie durch Solarenergie, Fusionsenergie oder Kernenergie zu erzeugen – damit man dank Hypereffizienz nur noch durch die Anzahl eingesetzter Maschinen und Körper begrenzt ist. So lange man weiter auf Kohle, Erdgas und Öl setzt, wo bei der Energieerzeugung viel Energie verloren geht, befindet man sich in einem Teufelskreis, der nie so gerecht sein kann wie ein Energiekreislauf, der auf unerschöpflichen Ressourcen wie Wasser-, Wind- und Solarenergie basiert.
Charmie: Ich möchte noch mal darauf zurückkommen, dass du gesagt hast, die Führung liege dann in den Händen einiger weniger. 2015 hatten wir zum Beispiel eine Konferenz zur Übergangsplanung und anderen Themen – dabei haben wir unter anderem den alten Präsidenten abgesetzt und die Organisationsstruktur angepasst. Man muss sich das also eher als eine Art runden Tisch vorstellen.
Tom: Ein Steuerkreis oder -rat oder so etwas?
Justin: Ja, ein Rat.
Charmie: Rat war nicht wirklich der Begriff, den wir verwendet haben. Aber ok. Es gibt jedenfalls verschiedene Bereichsleiter. Einen für Konfliktfälle, einen für dies, einen für das. Sie alle arbeiten zusammen – aber Bereichsleiter wird immer derjenige mit der meisten Erfahrung, dem Wissen und den passenden Fähigkeiten. Denn wir alle kennen genügend Präsidenten oder Gouverneure, die keine Ahnung von dem haben, was sie erzählen. Sie wissen einfach nur, wie man sich präsentiert und haben vielleicht Charisma. Das war’s. Bei uns ist es daher nun eine rotierende Organisation. Es gibt nicht einfach ein paar alte Hasen, die entscheiden und sich bereichern. Rotation ist essenziell, damit keine korrupten Beziehungen entstehen. Das kann natürlich passieren – aber genau deshalb haben wir 2015 unsere Aufbauorganisation angepasst und dieses Problem adressiert.
Tom: Auf eurer Webseite gibt es auch einen Menüpunkt zum Thema Übergangsplan 2016. Ich nehme an, dass dort die Dokumentation der besagten Konferenz zu finden ist?
Charmie: Ja. Ich weiß aber gar nicht, ob ich die Dokumente jemals hochgeladen habe. Denn die Konferenz fand kurz vor unserem Umzug statt. Ich arbeite noch immer daran. Aber vielleicht sollte ich mal das neue Organigramm veröffentlichen, damit man die eben beschriebene Struktur besser verstehen kann – denn die alte Struktur impliziert, dass Technokratie mit Kommunismus oder Sozialismus vergleichbar ist. Und das ist nicht der Fall.
Tom: Danke. Eine Anschlussfrage an Justin. Wenn wir noch einmal auf das CO2-Management zurückkommen, würde mich interessieren, wie du dir das in der Praxis vorstellst. Wie würde das Energie- oder Verbrauchsmanagement gesteuert – oder erzwungen? Automatisiert? So, dass mir mein Smartphone automatisch sagt, was ich tun kann und was nicht? Oder wäre das etwas, worüber die Leute diskutieren und zu gemeinsamen Entscheidungen kommen können? Wie könnte das in einer voll entwickelten Technokratie ablaufen?
Justin: Ich denke, man braucht beides. Man braucht menschliches Feedback zu sozialen Auswirkungen. Und dann braucht man Experten, die die Dinge steuern. Die kommunizieren, was die besten Optionen sind. Denn es besteht immer die Möglichkeit, dass eine Gemeinschaft eine schlechte Entscheidung trifft, weil sie nicht auf Experten hört. Manchmal kann es auch aus Egoismus oder Gier passieren. Oder wegen eines religiösen Dogmas, weil jemand glaubt, dass etwas gegen die eigene Religion verstößt. Technokratie versucht, sich auf Effizienz zu konzentrieren, das Beste zu tun und den Experten zu vertrauen. Ich denke, in einer technokratischen Gesellschaft würde sich auch das Bildungsniveau fundamental ändern. Es wäre viel höher. Die Gemeinschaft würde sich stärker einbringen. Das Bildungssystem ist weltweit dermaßen schlecht, dass wir miserable Entscheidungen treffen. Wir glauben Wissenschaftsscharlatanen, die uns wirkungslose Wundermittel im Supermarkt andrehen, weil sie angeblich gesund machen, magisches Wasser und so einen Kram, obwohl es dafür keinerlei Beweise gibt.
Tom: Das ist ein guter Punkt – wenn ich kurz unterbrechen darf. In den letzten drei Jahren stand »die Wissenschaft« nämlich oft im Fokus. Besonders in Deutschland kam es einem dabei aber so vor, als handele es sich eher um eine Religion. In Bezug auf Covid durfte man die Meinung der »Experten« partout nicht in Frage stellen. Obwohl sich mittlerweile herausgestellt hat, dass vieles von dem, was diese Experten rieten, nicht stimmte und funktionierte. Siehe Lockdowns. Und man könnte dahingehend noch eine Vielzahl anderer Expertenmeinungen anführen. Die meisten davon waren falsch. Fragt sich also, wie in einer Technokratie – gesetzt wir leben in so einem System – sichergestellt wird, dass die Wissenschaft nicht wie eine Religion behandelt wird. Echte Wissenschaft ist offen für Dialog. Für verschiedene Meinungen. Denn monokausale Erklärungen greifen meist zu kurz. Es gibt selten nur eine einzige richtige Antwort. Wie also ist sicherzustellen, das Wissenschaft ein lebendiger Prozess bleibt?
Justin: Es gibt zwei Wege das sicherzustellen. Denn die Wissenschaft wurde natürlich im Lauf der Jahre von der Privatwirtschaft korrumpiert. Tabakfirmen suchten sich zum Beispiel Wissenschaftler, die sich kaufen lassen, damit diese aufzeigen, dass Zigaretten nicht schädlich für den Konsumenten sind. Diese Wissenschaftler müssten bestraft werden. Das haben wir aber nicht getan. Und, wie Charmie schon ausführte, sollte es ein Gremium von Experten geben und nicht einen einzigen, der festlegt, was richtig ist. Um einen belastbaren Konsens zu erzielen, bedarf es einer Gruppe. Wenn es um neue Erkenntnisse in der Astronomie oder anderen Bereichen geht, gibt es ja auch große Kongresse mit Hunderten von Wissenschaftlern, die nach einer gewissen Zeit der Diskussion zu einem Konsens gelangen. Solch ein Vorgehen resultiert sicher in einer besseren Synthese als die Konsultation eines einzelnen Wissenschaftlers, der unter Druck gerät, wenn er darum gebeten wird, eine weitreichende Entscheidung zu treffen. Bei Covid brauchte man anfangs vor allem schnelle Entscheidungen. Also verließ man sich auf die ein oder andere Einzelmeinung. Sobald diese Entscheidung getroffen war, hinderte die Verantwortlichen aber nichts daran, diese Entscheidung im Lauf der nächsten drei Monate überprüfen zu lassen und zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Bis zu einem gewissen Grad hat man das ja auch getan – aber man scheute davor zurück, einmal getroffene Entscheidungen zu revidieren, weil damit der Eindruck von Inkompetenz entstehen könnte. Darüber hinaus gibt es Entscheidungsträger, die primär an Machterhalt interessiert sind. Denen geht es mehr um Politik als um Wissenschaft. Das habe ich in diesem Land sehr oft erlebt. Niemand möchte einräumen, Fehler begangen zu haben, weil das die gesamte Institution inkompetent wirken lassen und dem anderen politischen Spektrum mehr Einfluss verleihen könnte. Und das ist oft alles, was die Leute zu interessieren scheint.
Tom: Zusammenfassend würde das gemäß dem aktuellen Konzept der Technocracy Inc. also bedeuten, dass alle Meinungen am Tisch vertreten wären, miteinander diskutieren und gemeinsam zu einem vorläufigen Ergebnis der wissenschaftlichen Erkenntnisse gelangen, das durch den wissenschaftlichen Prozess aber jederzeit revidiert werden kann. Korrekt?
Justin: Nun, in der Wissenschaft entwickelt sich das Wissen ständig weiter. Was heute wahr ist, gilt morgen nicht mehr, weil wir heute mehr wissen als gestern. Daher muss man in vielen wissenschaftlichen Bereichen seine Schlussfolgerungen kontinuierlich überprüfen.
Tom: Gäbe es in einer technokratischen Gesellschaft denn noch Geld?
Justin: Das ist ein heikles Thema (lacht).
Tom: Stimmt (lacht). Deshalb ist es auch das größte Risiko für die Wissenschaft und jede andere Unternehmung. Denn so lange es Geld gibt und ich jemanden damit bestechen kann, haben auch Organisationen, die sich Mühe geben, rechtschaffen zu handeln, keine realistische Chance, das langfristig zu tun. Denn Geld korrumpiert alles und jeden. Irgendwann.
Justin: In einer Technokratie gibt es das Energiezertifikat. Energiezertifikate basieren auf dem tatsächlichen Wert von Strom und der benötigten Menge an Strom, um etwas herzustellen. Diese Zertifikate werden gleichmäßig verteilt, sodass es kein Korruptionsmotiv gibt. Aus meiner Arbeit für die Regierung des Bundesstaates Kalifornien habe ich dahingehend einiges gelernt. Denn die Regierung bat uns, mehr zu arbeiten, wollte dafür aber nicht mehr bezahlen. Entsprechend motiviert waren wir natürlich. Und ich denke, das dürfte einem Wissenschaftler ähnlich gehen, der weiß, dass er einfach nicht mehr bekommen wird. Egal, was er für welches Unternehmen macht. Man könnte den Mann wahrscheinlich immer noch irgendwie bestechen – zum Beispiel mit mehr Freizeit oder einer netten Urlaubsreise. Korruption wird es immer geben. Sie muss aufgedeckt und bestraft werden.
Aber die Energiezertifikate verfallen, wenn man sie nicht benutzt. Sie sind dafür gedacht, den Bedarf eines Monats zu decken und dann verfallen sie. Im nächsten Monat erhält man eine neue Zuteilung. Das erschwert es einem, Vermögen anzuhäufen und zu horten. Wohingegen es heute Familienclans gibt, die über Generationen hinweg die Industrie oder die Politik eines Landes kontrollieren. Und das in jedem Land der Welt.
Tom: Sorry, wenn ich unterbreche. Aber was würde für das für den Einzelnen bedeuten, der acht Stunden am Tag arbeiten geht, eine Familie hat und Geld sparen will, um ein Haus zu kaufen? Würde das noch gehen?
Justin: Du würdest wahrscheinlich einfach ein Haus bekommen (lacht). Es würde so laufen, dass jeder ein Haus zugewiesen bekommt – es wäre aber vielleicht nicht dort, wo man wohnen will. Dafür hätte aber jeder ein Haus. Mit zunehmender Bautätigkeit würde die Qualität dieser Häuser sich verbessern, während die Priorität zu Beginn eines technokratischen Modells ganz sicher darin bestünde, alle unterzubringen, zu ernähren und medizinisch zu versorgen. Sind diese Grundbedürfnisse erfüllt, versucht man, das nächste Level zu erreichen. Dazu würde man Umfragen durchführen, um herauszufinden, wie das jeweilige Traumhaus aussähe. Denn man wäre versucht, den Menschen ihre Wünsche zu erfüllen und den Lebensstandard stetig anzuheben.
Tom: Wenn man den Menschen das so vorschlägt, würden sich wohl viele an Kuba erinnert fühlen (lacht). Das ist dann auch das letzte Thema, das ich ansprechen wollte: Die Assoziation von Technokratie mit Sozialismus oder Kommunismus. Denn genau dieses Gefühl beschleicht viele, wenn man ihnen sagt, dass ihnen eine Wohnung zugeteilt werden würde oder das Energiezertifikat am Monatsende abläuft. Das ist im Gegensatz zu heute ja ein komplett anderes Modell. Heute kann man sich durch Arbeit etwas ansparen und dann in zehn Jahren vielleicht ein besseres Haus leisten als jemand, der weniger arbeitet oder verdient. Das wäre gesellschaftlich betrachtet also ein massiver Paradigmenwechsel. Und die meisten würden es wohl auch als Rückschritt empfinden. Denn die Autonomie, frei entscheiden zu können, ob man an der Küste, in Kalifornien, Boston oder irgendwo in den Ozarks lebt, ist Menschen wichtig. Wie also würdet ihr dem Argument begegnen, dass Technokratie an Kommunismus erinnert?
Charmie: Ich würde sagen, dass man in einer technokratisch geführten Gesellschaft genauso viele Freiheiten hat wie jetzt. Heute können Menschen es sich ja auch nicht leisten, umzuziehen. Oder sie haben familiäre Einschränkungen. Es wäre also dasselbe.
Justin: Ich denke, wenn man eine vernünftige Planung machen will, muss man im Vorfeld fragen, wo die Menschen wohnen möchten. Geht es ihnen mehr um die Location oder das Umfeld? Wenn also jemand an der Küste wohnen möchte – und in Kalifornien gibt es unzählige Küstenstreifen, wo absolut niemand lebt – geht es eher um das Management von Ressourcen.
Tom: Gäbe es demnach in der Praxis eine Art Auswahlprozess, im Zuge dessen ich aus einer Art Katalog auswählen kann, in welchem Staat, an welchem Ort oder in was für einem Haus ich wohnen will?
Justin: Es wäre mehr als nur ein Katalog. Es wäre vergleichbar mit dem Kauf eines Tesla. Man sucht sich die Farbe aus, die Innenausstattung, et cetera. Damit fängt man an, um herauszufinden, was der Kunde von seinem Haus erwartet, welche Wünsche und Bedürfnisse er hat. Dann präsentiert man ihm verschiedene Optionen. Vielleicht legt er seinen Fokus auf die Lage, weil er aufgrund familiärer Beziehungen unbedingt in Los Angeles wohnen will. Man erstellt also eine Art Wunschliste und ordnet sie den Prioritäten nach. Ein gut organisiertes System sollte das berücksichtigen können.
Tom: Da wir so langsam zum Ende kommen, möchte ich abschließend noch schnell zwei Fragen stellen. China haben wir ja bereits ganz kurz angesprochen – vertretet ihr die Auffassung, dass China eine Technokratie ist?
Justin: Es ist eine bösartige Version von Technokratie (lacht).
Tom: Das ist eine gute Antwort (lacht). Ich hatte etwas anderes befürchtet.
Justin: Chinas Regierungsrat ist hauptsächlich auf naturwissenschaftliche und technische Aspekte ausgerichtet. Es gibt eine große Anzahl von Wissenschaftlern und Ingenieuren. Aber die konzentrieren sich mit ihrem Wissen eher darauf, Geld zu verdienen und ihre eigenen kleinen Königreiche aufzubauen, anstatt auf die Verbesserung des Lebens der Bevölkerung.
Tom: Das stimmt. Man verfolgt dort sehr dystopische Ansätze, die darin gipfeln, dass Drohnen rund um das eigene Haus patrouillieren und Menschen verbieten, den Balkon zu betreten. Alles, was dort umgesetzt wird, erinnert von aussen betrachtet an die Horrorszenarien die Huxley und Orwell über eine düstere Zukunft geschrieben haben, in der Maschinen die Menschheit kontrollieren. Und das ist genau der Eindruck, den viele von Technokratie haben. In euren Augen nutzt China dieses System also nicht so, wie es die Gründer der Technokratiebewegung ursprünglich wollten – sondern in einer pervertierten Form, um die Bevölkerung zu unterdrücken.
Justin: Absolut. Es ist die Pervertierung einer Idee. Dort geht es nicht um das individuelle Wohlergehen, sondern um nationalistische Ambitionen. Es geht um die Gesellschaft als Ganzes, um das Kollektiv, anstatt um das Individuum. Technokratie, wie wir sie sehen, ist eher auf das Individuum, seine Gesundheit und sein Wohlergehen ausgerichtet. Und darauf, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft an diesem Wohlergehen teilhaben. In China hingegen ist das nicht der Fall – dort gibt es die Habenden und die Habenichtse.
Tom: Ja. Es herrscht Kollektivismus. Das Individuum zählt nichts. Deswegen wird man auch einfach in seinem Haus eingesperrt und die Alarmanlage geht los, wenn man es nach sechs Wochen Lockdown vielleicht einmal verlassen möchte. Sehr dystopisch.
Justin: Ja. Und die Menschen arbeiten in Fabriken, die eher an ein Gefängnis erinnern – während man ihnen sagt, dass sie genauso gut behandelt werden wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft – was völlig falsch ist.
Tom: Wirklich krank, ja. Gibt es irgendwo auf der Welt ein weiteres Beispiel für ein technokratisches System? Ein bestehendes – oder eines, das sich im Aufbau befindet? Mir fallen diesbezüglich vor allem die nordeuropäischen Länder ein, die sehr technologiegesteuert sind. Dort gibt es im Alltag bereits sehr viel Automatisierung – und die Menschen zahlen fast nur noch digital, weil man das Bargeld stark zurückgefahren hat.
Justin: Nein, ich glaube nicht. Denn das Wichtigste, ja das bestimmende Merkmal einer wahrhaftigen Technokratie ist für mich, dass es keine Obdachlosen mehr gibt. Selbst wenn man technokratische Ideen nur im Minimalumfang etabliert, sollte niemand mehr obdachlos sein. Niemand sollte hungern. Niemand sollte ohne medizinische Versorgung sein müssen – wie in Kalifornien, wo man vergeblich versucht, der Armut mit Obdachlosenunterkünften, Hotels, Motels und dergleichen zu begegnen. Aber die Regierung stellt nicht genügend Ressourcen für dieses Problem bereit. So kann man es nicht wirklich zu lösen. Man setzt immer nur gerade so viel Geld ein, dass man Applaus vom Wähler auf der Straße bekommt – damit man bei der nächsten Wahl im Amt bleibt. Aber wirklich lösen will dieses Problem niemand.
Tom: Ja, das ist wohl richtig. Charmie, wolltest du dazu noch etwas sagen? Ich habe da eine Bewegung wahrgenommen.
Charmie: Nein, alles gut. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Tom: Okay. Dann zum letzten Punkt. Ich wollte euch noch die Gelegenheit geben, euren Standpunkt bezüglich Technokratie klarzumachen. Wir haben ja vorhin darüber gesprochen, dass viele Autoren und Journalisten über Technokratie schreiben, dabei – wie ihr sagt – Panikmache betreiben und Menschen Angst machen, weil sie damit Geld verdienen können. Aber auch ich schaue mir China an und denke: Wenn das Technokratie ist, sollte man sich davor fürchten. Deswegen war es für mich hilfreich, dass wir uns heute getroffen haben. Möchtet ihr den Zuschauern also noch etwas mit auf den Weg geben, das Grundkonzept nochmals darlegen, etwas zu euren Plänen sagen oder die Leute wissen lassen, wo sie sich in sinnvoller Art und Weise über die Technocracy Inc. informieren können?
Justin: Wenn sich jemand die Mühe macht, ein Buch von Patrick Wood zu kaufen und zu lesen, empfehle ich dieser Person, auch unser Buch zu lesen – online und kostenlos – und dann die beschriebenen Ideen zu vergleichen. Leider machen sich viele Menschen aber nicht die Mühe, ein weiteres Buch zum gleichen Thema zu lesen.
Tom: Wie heißt das offizielle Buch? The »Technocracy Study Course«? Das ist das Original aus den 1930ern, das dann überarbeitet wurde, oder?
Justin: Genau. Das ist kostenlos online verfügbar.
Tom: Ja, das habe ich zur Recherche auch heruntergeladen.
Charmie: Wir haben 2015 mit der Überarbeitung begonnen. Und dann, wie gesagt, sind wir umgezogen. Es passierte sehr viel gleichzeitig. Die Überarbeitung war bis Kapitel sechs abgeschlossen. Dann ist das Projekt irgendwie auf der Strecke geblieben und auf Eis gelegt worden. Wir müssen das Buch aber definitiv mit neuen Ressourcen und Informationen aktualisieren, weil viele Inhalte schlichtweg veraltet sind.
Tom: Eure offizielle Webseite ist www.technocracyinc.org – dort findet man nicht nur meinen Artikel, sondern auch die anderen Inhalte, die ihr offiziell veröffentlicht. Sprich, viele Informationen zum originären Konzept, seiner Entstehung, seiner Geschichte und seiner Entwicklung. Darf man dieses Jahr noch mit irgendwelchen Aktivitäten rechnen? Vorträge, Präsentationen, Veröffentlichungen oder Ähnliches?
Justin: Ein großer Schwerpunkt liegt derzeit auf dem Material im Archiv und dessen Veröffentlichung. Auf diese Weise wird hoffentlich der Dämonisierung unserer Ideen etwas entgegengesetzt – indem Menschen die tatsächliche Geschichte der Konzepte nachvollziehen und sehen können, für was sie standen und wohin sie sich in Zukunft entwickeln werden. So können sie sich weiterbilden, anstatt all die Bücher anderer Autoren über uns zu lesen.
Tom: Nachdem ihr Patrick Wood erwähnt habt: Hat er euch jemals kontaktiert, um direkt mit euch oder jemandem von der Organisation zu sprechen?
Charmie: Ich habe angerufen und Nachrichten hinterlassen. Ich habe Briefe und E-Mails geschrieben und mitgeteilt, dass er mit der Technocracy Inc. sprechen soll, wenn er ein Interview über Technokratie machen will. Anstatt über uns zu reden, kann er gerne mit uns reden. Führ einfach ein richtiges Gespräch!
Tom: Ein Gespräch ist immer gut. Ich möchte euch aber nicht länger aufhalten. Wir sind bei knapp einer Stunde. Ich möchte deshalb zum Schluss kommen und mich für eure Teilnahme und die offene Diskussion bedanken. Das Thema ist sehr komplex und hat weitreichende Implikationen für Gesellschaft, Wirtschaft und Staat – und für die Art und Weise, wie wir heute mit unserem Lebensraum umgehen. Nicht zu vergessen Korruption und die philosophische Einordnung. Wenn ihr einverstanden seid, würde ich mich gerne demnächst für ein Folgegespräch melden. Dazu gibt es sicher auch Fragen von Zuschauern und Lesern. Das kann ich alles etwas zusammenfassen und vorab bereitstellen – dann können wir es vielleicht bei einem weiteren Meeting besprechen und etwas tiefer auf manche Punkte eingehen, die wir heute nicht ausreichend beleuchtet haben.
Justin: Das klingt gut.
Tom: Prima. Irgendwelche letzten Worte?
Justin: Nein.
Charmie: Vielen Dank. Ich freue mich sehr, über dein großes Interesse und dafür, dass du Kontakt mit uns aufgenommen und ein Gespräch mit uns geführt hast. Das ist mir sehr wichtig.
Tom: Gleichfalls. Ich habe zwar immer noch etwas Angst vor der Idee, wenn ich mir China anschaue, aber wie du sagtest, entspricht das nicht euren Vorstellungen. Ich schätze es sehr, dass ihr euch die Zeit genommen habt und wir so die Möglichkeit hatten, offen darüber zu diskutieren und diese Informationen mit der Welt zu teilen. Das ist wirklich großartig.
Justin: Ein letzter Punkt, den ich doch noch ansprechen möchte. Du hast vorhin erwähnt, dass in den 1920ern einige Technokraten davon sprachen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Du kennst H.G. Wells nehme ich an? Der hat einen Film namens »Vision of Things to Come« gedreht, dessen Drehbuch stark von den Schriften dieser Leute beeinflusst war. Deswegen ging der Film in diese (düstere) Richtung. Das ist aber bis heute einer der Gründe dafür, dass Menschen auf diese verrückten Weltmachtfantasien abfahren. Ja, es gab damals eine Gruppe machtgieriger Mitglieder, die solche Weltmachtfantasien hatte – aber ich denke, es sind primär die Medien, die daraus im Lauf der Zeit ein Monster erschaffen haben. Darauf habe ich ja vorhin schon hingewiesen. Und es wäre noch ein weites Feld, der Frage nachzugehen, wann und wo dieser Dreh in den Medien entstanden ist.
Tom: Ich denke, darauf können wir im zweiten Gespräch noch tiefer eingehen. Ich würde auch gerne noch mal über deinen Standpunkt sprechen, dass man Menschen in manchen Ländern in ihrer Freiheit einschränken muss, damit andere Menschen in anderen Ländern freier leben können. Für das Gleichgewicht. Denn genau darum geht es. Das allein können wir sicher eine Stunde diskutieren. Denn das ist einer der wichtigsten Punkte und macht vielen Menschen – mich eingeschlossen – Sorgen. Denn ich will mir weder von der Regierung noch von sonst wem etwas vorschreiben lassen. Das konnte nicht mal meine Mum (lacht). Ich denke, es gibt eine Menge Themen, über die wir in einem zweiten Gespräch sprechen können. Und ich hoffe, wir bekommen zeitnah einen Termin dafür hin. Vielleicht im März. Ich werde versuchen, das binnen zwei Monaten hinzubekommen, damit nicht zu viel Zeit zwischen den beiden Gesprächen liegt.
Justin: Okay. Danke.
Tom: Okay. Prima. Dann packen wir an dieser Stelle zusammen. Vielen Dank an alle Zuschauer und Zuhörer. Bis bald. Vielen Dank.
Addendum
Das vereinbarte Folgegespräch hat am 12. Februar 2023, also nur knapp vier Wochen später tatsächlich stattgefunden und wurde aufgezeichnet – bislang aber nicht veröffentlicht. Es erschien mir nach der ersten Unterhaltung mit Charmie und Justin inhaltlich nicht allzu relevant. Dann ging das Leben weiter. Und die Veröffentlichung unter.
Mittlerweile messe ich dem Interview allerdings etwas mehr Wert zu. Denn einige Themenblöcke, die ich mit Justin beim zweiten Meeting angeschnitten habe – CO2-Tracking, Syrien oder KI im Staatsapparat – sind zwischenzeitlich ein noch drängenderes Problem als im Februar 2023. Und Justins Einschätzung, dass KI in der US-Regierung stets eine den demokratischen Institutionen nachgelagerte Rolle einnehmen wird, war schlicht falsch.
Denn gerade die Vereinigten Staaten liefern uns derzeit das beste Beispiel dafür, wie KI positive Resultate für die Gesellschaft erzielen kann – siehe Aufdeckung von Korruption – während durch die Medienpräsenz dieser Erfolge, die in Anbetracht von US-Staatshaushalt und Staatsverschuldung einen Tropfen auf den heißen Stein darstellen dürften, gekonnt verschleiert wird, für welch totalitäre Zwecke KI parallel zum Freudentaumel eingesetzt wird. Siehe Deportationsentscheidungen, Stellenstreichungen, kuratierte Debattenräume, schalldichte Social-Media-Echokammern, Datenklau, prädiktive Polizeiarbeit und Exekution politischer Gegner.
Vor diesem Hintergrund werde ich das zweite Gespräch nun doch noch veröffentlichen. Es ist keine kleine Sensation mehr – wie Teil 1 – aber immerhin gut gealtert. In ein paar Wochen sollte es online sein.
Bild: Technocracy Inc.