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Utopia ist abgebrannt

Für Jünger des Turbokapitalismus ist schnöder Mammon Religion. Geld: Das Maß aller Dinge. Seine Akkumulation soll die Tür zum Kreis der Reichen und vermeintlich Schönen öffnen – dabei ist auch an den ehemaligen Epizentren des Luxus nur noch wenig elitär.


Tom-Oliver Regenauer | 17.11.2021

In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten war ich beruflich viel unterwegs und dabei regelmäßig auf der Suche nach dem Glanz des Reisens vergangener Zeiten. Auf zahllosen Trips in verschiedenste Länder folgte ich Fährten mondäner Dekadenz der goldenen Zwanziger- bis wilden Sechziger-Jahre und begutachtete ihre viel gerühmten Hotspots. Hotels, Strände, Bars, Clubs und Restaurants der gehobenen Kategorie. Folgend ein polemischer, desillusionierender Ausschnitt meiner Beobachtungen – deren Recherche und Dokumentation aus offensichtlichen Gründen nicht als glorifizierender Revisionismus in Bezug auf einen entsprechend verschwenderischen Lebensstil verstanden werden möchte, sondern schlicht als nüchterne Beobachtung der Begebenheiten im zeitlichen Kontext.

 

»Sie kaufen Dinge, die sie nicht brauchen, um Leute zu beeindrucken, die sie nicht mögen, mit Geld, das sie nicht haben.« (Richard David Precht, Philosophen-Darsteller)


Geld ist Macht. Daran glauben sie. Und ihr Glaube ist unerschütterlich. Nach einigen Jahren Selbstgeißelung ist er aber häufig auch das letzte, was ihnen geblieben ist. Sie rackern für den Moment der Erlösung. Sie dienen sich an, huldigen Götzen, sammeln Statussymbole und betreiben unvorstellbaren Aufwand, um auserwählt zu werden. Um oben mitmischen zu dürfen. Um Mitglied im Club zu sein. Egal in welchem. Solange er nur Zugang zur Beletage und den hochpreisigen Suiten der 5-Sterne-Tempel gewährt, in denen man die vermeintliche High Society vorzufinden wähnt. Luxusherbergen als Laufsteg selbsternannter Eliten.


Sie zelebrieren Mammon mit zügellosem Kompensations-Shopping in identisch aussehenden Innenstädten angesagter Reiseziele und gieren nach Absolution in Form von Champagner-Taufen. Sie lechzen nach Aufmerksamkeit und falscher Bewunderung. Sie fordern Einlass. Wollen in die Welt der Reichen und (vermeintlich) Schönen aufgenommen werden. Entbehrungen, Scharade, Selbstverleugnung und persönliche Verluste – für einen kurzen Augenblick vergänglicher Zugehörigkeit. Für den Hauch flüchtiger Anerkennung oder ein wohlwollendes Nicken ihrer Projektionsflächen. Anhänger des turbokapitalistischen Glaubens an permanentes Wachstum und die totale Macht des Geldes geben alles für monetären Erfolg, auch ihre Seele.  


Sie orientieren sich an naiven Idealvorstellungen von Luxus und elitärem Lebenswandel, die sie auf Fernsehen, Fotos, Videos und Hörensagen gründen. Sie beneiden Promis aus dem Privatfernsehen, die Royals, VIPs, Konzernchefs, Machtmenschen – und imitieren unbeholfen deren Habitus. Auch wenn sie es sich nicht leisten können. Um dann irgendwo in der Mitte ihres kurzen Lebens ernüchtert feststellen zu müssen, wie ausgebrannt und einsam sie sind. Obwohl sie es bisher nur zum Abteilungsleiter brachten, anstatt bis in den Vorstand. Manche merken, dass sie einer Fata Morgana aufgesessen sind. Die meisten jedoch töten ihre Selbstzweifel mit Alkohol, Schlafmitteln, Psychopharmaka, falschen Freunden und vollen Terminkalendern.


Denn an die richtigen Top-Jobs kommt man nur über Beziehungen und Netzwerke. Nicht durch harte Arbeit. Kompetenz ist dafür kein Kriterium. Gehört man nicht zu dem in jungen Jahren vorselektierten Bruchteil der Manager-Kaste, der es tatsächlich in höhere Weihen der internationalen Corporate Governance schafft, bleiben, neben Einheiraten in einen passenden Familien-Clan, nur Pump, Leasing-Modelle und Blendwerk, um den Eindruck erwecken zu können, dazuzugehören. So gehen ganze Monatslöhne drauf, um einmal ein Wochenende in der ehemaligen Stamm-Suite von Alfred Hitchcock in St. Moritz zu nächtigen. Nach zwei oder drei Nächten endet das Gefühl der Zugehörigkeit zur Upper Class abrupt am Check-out. Es folgt der kalte Entzug. Dennoch machen sich jedes Wochenende viele derart fehlgeleitete Ehrgeizlinge mit ihrem Porsche auf den Weg zu einem »Place To Be« ihrer Zeit. An die Hot Spots der Wohlhabenden und derer, die zwanghaft versuchen, so auszusehen.


Dann kommen sie an – an einem von Smartphones auf grelle, überfilterte Selfies gebannten, von Touristen entweihten Ort, der einstmals Nähe zur Natur und das Flair des Mondänen versprühte. Das Frühstücksbuffet, an dem vor ein paar Jahrzehnten noch Jetset und Adel in feinem Zwirn den Hangover mit Champagner übertünchten – erobert von verpennten Jogginghosenträgern mit fragwürdiger Frisur und ihren Louis Vuitton-Taschen spazierentragenden Schaufensterpuppen, denen jegliches Stilempfinden sowie die Fähigkeit zu lächeln abhanden gekommen zu sein scheint. Die ehemals von sanften Jazzklängen, Klassik und rücksichtsvollem Flüstern erfüllten Hotelbars, vereinnahmt von indiskreten Prolls, die jede Belanglosigkeit unreflektiert auf Instagram teilen, um ihr verkümmertes Ego aufzuwerten. Und je weniger sie davon haben, desto lauter sprechen sie. Umschmeichelt von schweren Vorhängen und dicken Perserteppichen tröten Handylautsprecher zu jedem Zeitpunkt des Tages unwichtige Telefonate oder Streaming-Dienste in die eigentlich friedvolle Umgebung der alten Grand Hotels. Die Kathedralen des Luxus sind vielerorts zum Gruselkabinett mutiert.


Ein guter Concierge mit lokalen Tipps und Organisationstalent ist selbst in exklusiven Hotels mittlerweile die Ausnahme. Der Service an sich ist oft ausgezeichnet, wirkt aber angestrengt, aufgesetzt und wenig persönlich. Angemessene Kleidung oder elegante Abendgarderobe, die dem historischen Ambiente der oft geschichtsträchtigen Architektur gerecht würde – bei den meisten Gästen Fehlanzeige. Anzug und Krawatte trägt in der Regel nur noch das Personal. Dafür maltretieren selbstverliebte Zimmernachbarn den ruhesuchenden Hotelgast regelmäßig mit nächtlichem Abspielen seelenloser Partymusik, die aus miserabel ausbalancierten Bluetooth-Lautsprechern durch die langen Flure manch altehrwürdiger Gebäude hallt. Von der optische Belästigung durch visuell schwer zu ignorierende Kunden, denen das Wort Schamgrenze gänzlich unbekannt zu sein scheint, ganz zu schweigen. In ihrer Selbstwahrnehmung hält sich vermutlich die Mehrzahl dieser »Paradiesvögel« für unwiderstehlich und extravagant. Sie sehen sich als extrovertierte Individualisten. Nüchtern betrachtet ist dieser Typus Hotelgast jedoch meist peinlich, schlecht gekleidet und die Karikatur eines Stars, VIPs oder Playboys alter Schule. Die Garderobe vieler Wochenend-Luxus-Touristen orientiert sich scheinbar, und das zunehmend leider auch bei älteren Semestern, am letzten Outfit der taff-Moderatoren bei Pro7. Gunter Sachs, Erfinder des Playboy-Lifestyles und ehemaliger Stamm- und Star-Gast des wunderschön gelegenen Kulm Hotels in St. Moritz, würde sich im Grabe umdrehen.


Egal wo – ob bei Puny in Portofino, in St. Tropez, New York, Miami, Bellagio, Havanna, Sylt, Monaco, auf den Malediven, in Baden-Baden, dem Chateau Marmont in Los Angeles, dem Dolder Grand in Zürich oder dem Badrutt´s Palace in St. Moritz – überall nur lauer Abklatsch des leichtfertigen und dekadenten Luxuslebens, für das man dereinst in die Riege der Gutbetuchten aufsteigen wollte. Die mühsam finanzierten Luxuskarossen gleichen sich heutzutage wie ein Ei dem anderen. Ebenso die hässlichen, mit viel zu großen Logos bedruckten Marken-Klamotten ihrer Fahrer. Die Wellness-Bereiche der luxuriösen Herbergen sind entweder verwaist und verwahrlost, oder völlig überfüllt und unansehnlich. Entspannung, Privatsphäre und individuellen Service sucht man selbst in hochpreisigen Anlagen immer häufiger vergebens. Von den Auswirkungen des Corona-Hygiene-Wahnsinns auf Ambiente, Service, kulinarisches Wohl und Privatsphäre des Gastes gar nicht zu sprechen.


Und auch die wirklich Reichen, die Stars und Machthaber unserer Zeit trifft man an den ehemaligen Hot Spots der Schickeria nicht mehr. Hier und da taucht ein verirrter Promi auf, oder auch nur ein x-beliebiger Ferraristi mit seiner roten Insignie des Erfolgs, und wird von flanierenden Horden sofort wie ein seltenes Tier im Zoo umringt, bestaunt und fotografiert. Daher bleibt unter sich, wer es sich wirklich leisten kann. Vorbei die Zeiten, zu denen Angehörige des internationalen Jetset und Superreiche einfach nur einen Tisch im Separee zugewiesen bekamen und dort unter sich, aber zumindest noch in öffentlich zugänglichen Etablissements, ihre Exzesse und Gelage feierten. Sie mischen sich nicht mehr zurückhaltend, wohlgekleidet und stets freundlich lächelnd unters Volk. Das ist zu gefährlich geworden. Denn immer mehr Menschen erkennen den modernen Feudalismus, der sich, als Demokratie getarnt, wie ein Geschwür verbreitet hat. Das Risiko, spontanen Volkszorn zu provozieren, vermeiden elitäre Kreise mittlerweile tunlichst.


Die großen Hollywood-Stars, die wahre Elite, das alte Kapital und der Hochadel haben sich längst aus der von Neid und Gier zerfressenen und vom Stockholm-Syndrom paralysierten Öffentlichkeit zurückgezogen. Man bleibt unter sich. Auf Privatinseln, in abgeriegelten Resorts, Gated Communities oder sonstigen abgelegenen Rückzugsorten, zu denen der normale Karrierist sowie die zudringliche Meute von Emporkömmlingen und Touristen keinen Zugang findet. Sonnen kann sich der aufmerksamkeitshungrige, sensationslustige Möchtegernreiche lediglich noch im fahlen Glanz unbedeutender B- und C-Promis, die ohne ihre 15 Minuten Aufmerksamkeit von anspruchslosen Fernsehzuschauern und Gala-Lesern nicht einmal das wären.


Nein: Es werden keine Elefanten mehr für Events in die Hotel-Lobby bugsiert, tausende rote Rosen aus Helikoptern abgeworfen, 5-Gänge-Menüs auf Schlittschuhen serviert oder ganze Orchester aufgefahren, um die Liebste mit klassischen Klängen zu beeindrucken. Niemand fährt mehr auf dem Motorrad durch den Bankett-Saal oder bestellt kistenweise Dom Perignon für seine über Monate im Kulm Hotel einquartierte Entourage. Keine Hollywood-Ikonen und waghalsigen Trunkenheitsfahrten mehr auf dem Cresta-Run in St. Moritz. Richtig über die Stränge geschlagen wird nur noch selten. Und wenn, dann ist es meist der simple Suff. Keine hemmungslose Dekadenz in Brioni-Anzügen und Ballkleid, sondern Protz und billiger Prunk. Auch an den knausrigen Trinkgeldern ist festzumachen, dass viele Gäste für ihren Aufenthalt in den ehemaligen Tempeln der High Society sichtlich ans finanzielle Limit gehen müssen, wie viele Angestellte insgeheim berichteten. So mancher Pseudo-Bonze verbringt seinen Urlaub eher in Furcht vor der exorbitanten Rechnung beim Check-out als in gelassener Entspannung.


Wozu sich also nach sozialem Aufstieg, nach Karriere, Reichtum, Ansehen und Statussymbolen verzehren, wenn selbst das, was man sich als Kind in naiver Art und Weise unter Reichtum und Luxus vorgestellt hat, schon lange nicht mehr existiert? Warum Unsummen aufwenden für ein paar Tage Schaulaufen unter Fremden in den Ferien – in einer Unterkunft, die kaum noch eines ihrer Qualitätsversprechen erfüllen kann? Weshalb Teil eines Zirkels werden, dessen Mitglieder primär Fremdscham auslösen weil Stil für sie ein Fremdwort ist? Warum eine imposante Fassade finanzieren, die niemandem Respekt abringt?


Das ultimative Ziel des Kapitalisten, die wahre Droge der Superreichen – absolute Macht – von der die reichsten 0,1 Prozent der Weltbevölkerung geradezu manisch umgetrieben sind, wird ohnehin niemand aufgrund banaler beruflicher oder gesellschaftlicher Erfolge kosten.


»Macht brauchst Du nur, wenn Du etwas Böses möchtest. Für alles andere reicht Liebe.« (Sir Charles Chaplin)



 

Foto: Netzfund (Bearbeitung: regenauer.press)


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