Tom-Oliver Regenauer | 23.02.2021 | Lesezeit: ~ 6 Minuten
Wir leben in einer post-literarischen Zeit. Das ist leider Fakt. Menschen lesen insgesamt weniger. Nicht nur die Auflagenstärke der Tageszeitungen geht in Deutschland seit 1991 konstant zurück, von damals 27,3 Millionen/Jahr auf heute 12,5 Millionen/Jahr – auch der Absatz von gedruckten Büchern nimmt stetig ab. Selbst wenn eBooks, Hörbücher und andere digitale Formate den quantitativen Rückgang des gedruckten Werkes statistisch zum Teil kompensieren, dem Verlust der »Lese-Kultur« haben sie nichts entgegenzusetzen.
Ein Buch definiert sich nicht nur über seinen Inhalt. Es ist auch ein haptisches Erlebnis. Der Einband kommuniziert durch seine Beschaffenheit, die Seiten durch ihre Textur. Das Papier hat einen eigenen Geruch, je nachdem wie alt die Ausgabe ist und woher sie kommt. Kauft man Bücher auf dem Flohmarkt oder im Antiquariat, finden sich häufig Notizen, Anmerkungen und Lesezeichen der Vorbesitzer in den gebrauchten Exemplaren. So birgt jedes Buch seine individuelle, kleine Geschichte, nebst den Worten des Autors – und die Möglichkeit, diese weiterzuführen. Indem man eigene Notizen macht, Zeilen unterstreicht oder eine Klammer setzt. Und das Buch irgendwann verschenkt, an die Person, die es gerade braucht, sucht oder verdient hat.
Die elektronischen Varianten können das nicht leisten. Mit einem eReader hat jedes Buch denselben Geruch. Es altert nie. Die Haptik ist bei jedem Werk identisch. Auf einem Tablet lassen sich schlecht Notizen mit einem Bleistift machen – und virtuelle Notizen sind einfach nicht das Gleiche. Selbst der alte Kaffeefleck, den jemand auf einer Seite hinterlassen hat, würde mir irgendwie fehlen.
Ganz abgesehen von der Tatsache, dass man mit derartigen Geräten abhängig von Elektrizität ist, ein gedrucktes Buch aber in jeder Reise- oder Lebenslage gelesen werden kann. Für mich das Hauptargument, Bücher nur in Papierform zu besitzen. Auf jede meiner zahlreichen Reisen habe ich ein oder zwei Bücher mitgenommen, und oft sind mir diese genauso bildhaft in Erinnerung wie die besuchten Weiten der Masai Mara, die Ruinen der Maya-Tempel oder die »Moai«, die stummen, steinernen Wächter der Osterinsel.
Zudem – ein gut sortiertes Bücherregal hat eine Ausstrahlung, es reflektiert die Interessen des Besitzers und erzählt seine Geschichte. Wenn ich jemanden besuche und muss warten, begutachte ich mit Freude die vorhandene Literatur. Es ist überaus erstaunlich, wie gut man Menschen anhand der Bücher einschätzen kann, die sie lesen.
In einer Zeit, in der wir permanent unter Strom stehen, das Stress-Level hoch und die Toleranzschwelle niedrig ist, bietet das Lesen eine Oase der Ruhe.
Das Buch als Gegenpol zur hektischen Außenwelt, die uns mit ihren Breaking-News leicht in den Wahnsinn treiben kann. Die schwedische Regierung rät mittlerweile gar in TV-Spots dazu, den Nachrichtenkonsum zu reduzieren, um die mentale Gesundheit nicht nachhaltig zu gefährden. Was also entschleunigt besser als ein gutes Buch?
Daher möchte ich folgend (und in der Zukunft regelmäßig) ein paar Buchtitel empfehlen, die ich in der Vergangenheit gerne gelesen habe. Die Liste folgt keiner bestimmten Struktur, fokussiert kein spezielles Themengebiet, hofiert keiner Ideologie und berücksichtigt keine Genres – es sind schlichtweg tolle, spannende Bücher, die dabei helfen können, die reale Welt für eine Weile auszublenden, um auf neue, vielleicht konstruktivere Gedanken zu kommen.
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (Milan Kundera)
Die wunderbar geschriebene Geschichte von zwei unterschiedlich Liebenden in Zeiten des Prager Frühlings. Voller Tragik, Tiefe und philosophischer Nebenschauplätze. Bis heute eines meiner Lieblingsbücher, um über den Sinn des Lebens nachzudenken.
Das Focaultsche Pendel (Umberto Eco)
Fesselnder, genialer Wahnsinn. Ein großartiger Roman und absolutes Meisterwerk in Sachen postmodernder Schreibkunst. Selbst eine kurze Zusammenfassung der Handlung würde hier zu viel Raum einnehmen – wie das Buch, nachdem man es gelesen hat.
Haben oder Sein (Erich Fromm)
Um was geht es im Leben? Wollen wir immer mehr besitzen - oder wollen wir jemand sein, idealerweise wir selbst? Ein Klassiker der Konsumkritik seit den wilden 60ern.
Die Kunst des Liebens (Erich Fromm)
Neben »Haben oder Sein« eines der bekanntesten Werke von Fromm. Ein Plädoyer für Selbsterkenntnis und wahre Liebe, an Stelle marktwirtschaftlicher Ansätze in Partnerwahl und Liebesleben.
Narziß und Goldmund (Hermann Hesse)
»Hier bekommen die zwei Grundformen des schöpferischen Menschen Gestalt: der Denker und der Träumer, der Herbe und der Blühende, der Klare und der Kindliche. Beide verwandt, obwohl in allem ihr Gegenspiel, beide vereinsamt, beide von Hesse gleich gerecht in ihren Vorzügen und Schwächen erkannt, gleich exakt wiedergegeben.« (Max Herrmann-Neiße)
Kurze Antworten auf große Fragen (Stephen Hawking)
Kurzweilig, intelligent, faszinierend, weitsichtig. Mehr braucht man weder zu Buch noch Autor sagen. Unglaublich, wie leicht es Stephen Hawking immer wieder fällt, komplexe Vorgänge und Konzepte auch für »Normalsterbliche« bildhaft nachvollziehbar zu machen.
Eine kurze Geschichte von fast allem (Bill Bryson)
Das Sachbuch ist eine auf viele Anekdoten gestützte Geschichte der Entdeckungen und Entdecker in den hier betrachteten Einzelwissenschaften. Im Mittelpunkt des Buches stehen dabei die verschiedenen Persönlichkeiten und Eigenarten der Wissenschaftler, und die Hintergründe der wissenschaftlichen Arbeiten, wo auch Plagiate und Ehrabschneidungen, Theoriebildungen und Fehleinschätzungen eine Rolle spielten. (Quelle: Wikipedia)
Aufzeichnungen eines dirty, old Man (Charles Bukowski)
Eine Sammlung seiner besten Kolumnen. Kann man lieben oder hassen, genau wie der Autor es in seinem Statement zum Buch verkündet hat – ihm war das wohl wirklich egal. Mich fasziniert die gebrochene Gestalt aber nach wie vor, genauso wie das ungestüme, leidenschaftliche Schreiben des Charles Bukowski.
Erzähler der Nacht (Rafik Schami)
Ein bisschen kitschig, ja. Aber schön. »Salim, der beste Geschichtenerzähler von Damaskus, ist verstummt. Sieben seiner Freunde besuchen ihn Abend für Abend und erzählen die Schicksalsgeschichten ihres Lebens. Damit können sie Salim erlösen, denn er benötigt sieben einmalige Geschenke.« (Zitat: Hugendubel.de)
Das geheime Leben der Bäume (Peter Wohlleben)
Lehrreich und inspirierend, wie der Autor hier über das Zentrum seines Lebens schreibt – den Wald. Peter Wohlleben kennt die Bäume wie kaum ein anderer. Das Buch lässt schon den Baum im Garten in einem anderen Licht erscheinen. Ganz zu schweigen vom Wald, dessen komplexes Ökosystem man nach dieser Lektüre deutlich besser versteht.
The John Lennon Letters – (Hunter Davies) ENG
Ein Muss für Beatles-Fans. Ziemlich teuer (ca. 140,00 EUR) aber eine Anschaffung fürs Leben. Die gesammelten Briefe von John Lennon sind nicht nur grafisch ansprechend aufgearbeitet, sie erzählen auch mehr über den Beatle und seine Band, als es ein Biograph jemals könnte.
Why we sleep: The new science of sleep and dreams (Matthew Walker) ENG
Wer dieses Buch gelesen hat, sieht sein Schlafverhalten in einem neuen Licht. Und vermutlich mit berechtigten Bedenken, denn die meisten von uns leben was das Thema angeht mit falschen Annahmen und Überzeugungen – Matthew Walker korrigiert unsere Denkfehler und präsentiert in spannender Art und Weise aktuelle, faszinierende Forschungsergebnisse. Seit der Lektüre des Buches versuche ich, mir die lebenswichtigen 7-8 Stunden Schlaf pro Nacht zu gönnen. Lesen!
Digital Minimalism: Choosing a focused life in a noisy world (Cal Newport) ENG
Wir wissen es: Die digitalen Helfer kontrollieren uns und manipulieren unser Handeln. Ihre Algorithmen kämpfen um jede Minute unserer Aufmerksamkeit, denn das ist die Ware – unsere Zeit. Wer lernen will, diese effektiver zu nutzen, sollte Cal Newports Anregungen lesen. Schon mit ein paar simplen Handgriffen minimieren wir den Einfluss, den die Digitalisierung auf uns hat und machen so Platz für das Wesentliche – unser Leben.