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Artikel 1 - was ist heute noch unantastbar?

Ein philosophisches Essay zu Menschenwürde, Freiheit und Demokratie im Jahr 2021


Tom-Oliver Regenauer | 05.01.2021 | Lesezeit: ~12 Minuten


2020 war ein turbulentes Jahr, eine Zäsur. Für die Gesellschaft, die Wirtschaft – und für unser Selbstverständnis als Spezies. Jeder sieht und spürt die Veränderungen, die um uns herum im Windschatten von COVID-19 stattfinden. Sie richtig einzuordnen fällt jedoch schwer. Die Zukunft scheint ungewisser denn je. Zentralbanken bereiten den Roll-out digitaler Währungen vor und IWF-Chefin Kristalina Georgiewa spricht von einem »zweiten Bretton Woods Moment«. Bislang kontrovers diskutierte Themen, Ideen und Konzepte für eine 4. Industrielle Revolution und den Transhumanismus liegen (wieder) auf dem Tisch; und finden plötzlich erstaunlich viele Befürworter aus allen Lagern. Biometrie und die Verschmelzung von physischer und digitaler Identität katapultieren uns in Richtung totalitärer Systeme nach chinesischem Vorbild. Der Status Quo ist nicht mehr existent.


Ich hätte mir gewünscht, unter anderen Umständen meiner Leidenschaft für das Schreiben erneut Ausdruck zu verleihen. Der Inhalt meines Blogs sollte sich ursprünglich vor allem den Themen Literatur, Musik, Kunst und Philosophie widmen. Eine kreative Injektion für diese post-literarische Ära sollte es sein. Aufgrund der massiven, globalen Verwerfungen, die wir im Rahmen der Corona-Krise in Echtzeit miterleben, lässt es sich jedoch nicht vermeiden, den Fokus auch auf die Themenfelder Politik, Soziologie, Finanzindustrie und Technologie zu lenken – die Brandherde der post-faktischen Ära.


Daher setzt sich der erste Beitrag des Jahres 2021 direkt mit dem Kern unseres politischen Systems auseinander: Dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, verabschiedet am 23. Mai 1949. Fast genau vier Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges am 8. Mai 1945. Wir alle kennen es. Wir berufen uns im politischen und gesellschaftlichen Diskurs, oder wenn es um unsere Geschichte und Grundrechte geht darauf. Mehr als ein paar prägnante Sätze des Gesetzestextes sind wahrscheinlich nur einem Bruchteil der Gesellschaft geläufig. Aber den ersten Artikel können wohl die meisten in Deutschland lebenden Menschen wiedergeben.


»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« 


Auf diesen Satz gründen wir im Idealfall unser zwischenmenschliches und gesellschaftliches Miteinander. Wir akzeptieren den Gesellschaftsvertrag unter dieser Prämisse, folgen den Reglements und Gesetzen des modernen, gesichtslosen Imperiums, das ein digitalisierter Staat im Jahr 2021 nun mal ist. Die Annahmen, dass alle Menschen gleich sind, vor allem vor dem Gesetz, und dass die »Würde des Menschen« unantastbar ist, sind unser Leitbild für eine inklusive, offene, faire und soziale, repräsentative Demokratie.


Es scheint so einfach, so selbstverständlich. Alle Menschen sind gleich vor dem Gesetz, also dem Staat, dem sie durch die repräsentative Organisation und den Gesellschaftsvertrag überhaupt erst seine Autorität verleihen. Das Volk ist der Souverän in diesem System. Die Politik dient und löst das vertragliche Versprechen ihrerseits ein. Der Staat garantiert verbriefte Freiheiten, sowie faire, transparente Legislative und Judikative. Er schützt mittels Exekutive das Volk vor Unrecht und Gewalt; und sorgt für ein prosperierendes Umfeld, in dem sich der Bürger entfalten und im Rahmen seiner Berufung verwirklichen kann. Gleiche Rechte und Pflichten für alle. Wie gesagt, »im Idealfall«. Aber Demokratie war nie fair. 


Die Bedeutung von Artikel 1 des Grundgesetzes scheint offensichtlich. Seine Formulierung wirkt unmissverständlich, unveränderbar, wie in Stein gemeißelt. Ist dem so? 


Kann sich die deutsche Gesellschaft 76 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes noch nach dem simplen, aber wirkungsvollen ethischen Kompass von Artikel 1 ausrichten, definiert sie sich noch dem Wortlaut entsprechend? 


Um die Gültigkeit, Relevanz und Anwendbarkeit von Artikel 1 im Lichte unseres aktuellen technologischen und zivilisatorischen Entwicklungsstands zu überprüfen, muss man sich zunächst mit einer auf den ersten Blick lapidar wirkenden Frage beschäftigen: 


Wie definiert sich die unantastbare Würde des Menschen?  


Was verstehen wir heute darunter? Hat sich die Bedeutung des Begriffes im Lauf der Zeit geändert? Bewerten wir ihn anders als vor 76 Jahren – oder vielleicht uns selbst? Wissen wir, woran sich die Würde messen lässt? Lassen wir uns von außen eine Position im Gefüge der Gesellschaft oktroyieren, die am Ende nichts mehr mit Menschenwürde zu tun hat? Von welchen sozialen, technologischen und politischen Rahmenbedingungen wird die Würde des Menschen, sowie sein Selbstverständnis diesbezüglich beeinflusst? Wie können wir den Begriff Würde global anwenden, wenn es derart drastische Unterschiede zwischen den Regionen der Welt und ein extremes Gefälle in der Verteilung von Bildung und Wohlstand gibt? Und haben solche Fragen überhaupt noch Relevanz in einer Zeit, in der die Menschheit zum konformistischen, egoistischen Produkt ihres eigenen Konsums verkommen ist?


Das Bundesverfassungsgericht hat am 20. Oktober 1992 die folgende Definition des Begriffs »Menschenwürde« verfasst (Beschluss 1, BvR 698/89 des Ersten Senats):


»Mit ihm (Begriff) ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen verbunden, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt. Menschenwürde in diesem Sinne ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch "unwürdiges" Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt


Sachlich kühl formuliert. Die Begriffsdefinition beschreibt allerdings nicht, wie weit der soziale Wert und Achtungsanspruch des Menschen gehen soll, kann und darf – oder was genau die Subjektqualität ausmacht. Sicher gibt es auch dazu zahlreiche Definitionen. Aber kann das Axiom »Subjektqualität« die Würde des Menschen quantifizieren, sie messbar machen, wo der Begriff doch eher wie eine Produktbeschreibung im Supermarkt anmutet? 


Ein Gedanken-Experiment: 


Stellen wir uns einen halbwegs intelligenten Fisch im Aquarium vor, dessen Leben sorgen-frei verläuft. Es gibt ausreichend Platz und Natur, um Bewegungstrieb und Neugier zu befriedigen, es existieren andere Fische, mit denen man sich die Zeit vertreiben kann, genügend Futter ist auch da, um das man sich zudem keine Gedanken machen muss. Freie Zeit steht ebenfalls zur Verfügung. Die Entscheidung was zu tun oder zu lassen ist, obliegt einem selbst. Könnte der Fisch soweit denken, wäre er vermutlich der Auffassung, er führe ein freies, würdevolles Leben – solange man ihm nicht verrät, dass es einen Ozean gibt. 


Im Angesicht dieser Information wirkt das Dasein des Wasserbewohners nicht mehr ganz so würdevoll. Eingesperrt in einem vergleichsweise winzigen Bassin, abhängig von der fütternden Hand seiner Besitzer, von bohrenden, glasigen Blicken verfolgt, ohne Zugang zur großen, weiten Welt, würde er seine Situation wohl eher als Gefangenschaft klassifizieren.


Müssen wir also beginnen, unser Aquarium lieben zu lernen?


Betrachtet man die Entwicklung der Menschheit über die letzten 100 Jahre, drängen sich Analogien wie diese förmlich auf. Man hat den Eindruck, dass Industrialisierung und zu-nehmende Digitalisierung eine Art Aquarium für Mensch und Gesellschaft kreieren. Durchsichtig zwar, aber nicht unbedingt durchlässig. Ein Netz von Verpflichtungen, Verlockungen, Aufmerksamkeitskillern, Informationen und Daten legt sich unaufhaltsam um unsere Spezies. Um bei der Metapher zu bleiben: Noch ist die Menschheit sich bewusst, dass es den Ozean gibt. Das Verlangen, frei darin schwimmen zu wollen, scheint aber zu schwinden. 


Wie sonst lässt sich erklären, dass drastische Maßnahmen wie Lockdowns und Ausgangs-sperren von einem Großteil der Bevölkerung kritiklos hingenommen, oder gar als notwendig betrachtet werden – selbst wenn unklar ist, ob diese wirklich zur Eindämmung des Virus beitragen? Wieso nehmen die Menschen die Kollateralschäden, die solche Einschränkungen anrichten billigend in Kauf, obwohl selbst die offizielle Datenlage des Statistischen Bundesamtes und Verlautbarungen der WHO implizieren, dass die Letalität von COVID-19 eher mit einer schweren Grippewelle zu vergleichen ist als mit Ebola? 


Sind wir als Spezies an einem Punkt angelangt, an dem wir uns straffer führen lassen wollen, an dem es uns genügt, in einem Aquarium zu existieren – mit Ausblick auf das Meer? Und werden die kommenden Generationen noch im Meer schwimmen wollen? Werden sie überhaupt noch etwas vom Ozean wissen? Der Eindruck entsteht, dass Technologie, permanentes Entertainment, Übersättigung, Medieninkompetenz und Bequemlichkeit dazu führen, dass wir immer unselbstständiger werden. Wissenschaft und Politik nehmen scheinbar den Platz der an Bedeutung verlierenden Religionen ein. Es genügt vielen zu glauben, anstatt zu wissen. Offizielle Narrative zu hinterfragen, wird als Blasphemie verstanden. Eigenverantwortung und selbstständiges Bewerten von Informationen sind unerwünscht. Kritiker werden diffamiert und in Schubladen gesteckt. »Framing« für Menschen, die Überschriften lesen statt ganzer Texte. Die Sprache wird vergiftet und Begriffe umgedeutet. Neue Paradigmen werden ausgerollt. Entscheider sprechen seit Beginn der Pandemie von einer einmaligen »Chance« für einen Neustart der Welt – eine Formulierung, die in den Ohren der von den Auswirkungen der Krise stark betroffenen Bevölkerungsgruppen wie Hohn klingen dürfte. Man teilt uns mit, dass wir das »New Normal« akzeptieren müssen. Unter diesen Gesichtspunkten müsste man die vorangehende Frage also mit »ja« beantworten – wir sollen damit beginnen, unser Aquarium zu lieben.


Ist die Akzeptanz des »New Normal« alternativlos?


Gehen wir nochmals zurück zum Begriff der Menschenwürde. Orientiert man sich an der Definition des BVG, empfinde ich die derzeitige Situation in Deutschland als deutliche Minderung der sogenannten Subjektqualität. Es ist mir, wie allen anderen, nicht mehr möglich, die Freiheiten in Anspruch zu nehmen, die uns Bürgern gesetzlich zustehen. Der Staat ist nicht in der Lage, dem Bürger transparent zu machen, welche Einschränkungen für welchen Zeitraum aufrechterhalten werden. Bestehende Maßnahmen entbehren zu oft einer Grundlage, siehe allgemeine Ausgangssperre ab 20:00 Uhr. Eine zermürbende Salami-Taktik. Eine Perspektive für die Post-Corona-Zeit wird nicht artikuliert, die Vision des Soll-Zustandes nicht klar kommuniziert, sollte es diese geben.


Im Lichte dieser Entwicklungen bin ich der Meinung, dass die Würde des Menschen hier und heute nicht mehr unantastbar ist – oder, dass der Begriff Menschenwürde eine neue Definition verlangt. Wenn wir uns mit weniger Würde zufriedengeben wollen als in der Vergangenheit, dann müssen wir das in der gesellschaftlichen Debatte definieren, uns mit einer reduzierten Form der Menschenwürde abfinden. 


Das eifrig propagierte »New Normal« steht meinem Verständnis von menschenwürdigem Dasein jedenfalls diametral gegenüber. Mir genügt es nicht, ein Leben in den eigenen vier Wänden, zwischen Büro, Smartphone und Netflix zu führen. Und ich werde es nicht tun. Ich verstehe Demokratie als ein freiheitliches, politisches System der Partizipation, welche durch neue EU-Richtlinien für die Digitalwirtschaft genauso beschnitten wird, wie durch das Umgehen des Parlaments nach Verabschiedung des »Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« (Infektionsschutzgesetz) am 19. November 2020. Freie Meinungsäußerung ist nicht verhandelbar. Das Entfernen von unliebsamen Inhalten in den Sozialen Medien durch private Unternehmen und in Absprache mit der EU ist Zensur – denn eine Demokratie muss alle Meinungen aushalten, auch wenn sie der eigenen Weltsicht widersprechen. Extreme finden in der Regel keine Anhänger, vor allem dann nicht, wenn man sie selbst zu Wort kommen lässt. Mehrheiten bildet die Bevölkerung, nicht der Staat. Und signifikante Mehrheiten generiert abstruser Schwachsinn selten. Trotzdem muss diese Entscheidung beim Bürger liegen. Eine Selektion und tendenziöse Ausklammerung von Information seitens des Staates, oder durch von ihm beauftragte, private Unternehmen, untergraben die freie Meinungsbildung und damit die demokratische Idee.


Ich möchte, wie viele andere auch, die Möglichkeit haben, meinem Wissen vom metaphorischen Ozean Taten folgen zu lassen. Einschränkungen persönlicher Freiheiten gab es auch vor Corona, zum Beispiel aufgrund des Kampfes gegen den Terrorismus. Die derzeitigen Einschnitte aber sind beispiellos; und sie haben kein klar definiertes Ziel, keinen Endtermin. Zudem wissen wir aus der Geschichte, dass einmal eingeführte Befugnisse vom Staat selten vollständig zurückgenommen werden. Dies geschah weder nach Auflösung der Roten-Armee-Fraktion noch nach 9/11 – wieso also sollte die Corona-Krise eine Ausnahme darstellen?


Wie also gehen wir um mit den entstehenden Verwerfungen und der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft?


Ich denke, dass wir nicht an einer neuen Definition der Menschenwürde arbeiten müssen, die sich dem »New Normal« anpasst, sondern an der Wiederherstellung eines menschenwürdigen Daseins und der Grundrechte – sollten diese nach der Corona-Krise nicht zeitnah und vollständig reaktiviert werden. Wobei die Aufgabe damit nicht begann, oder endet. Würde hatte noch nie für alle Menschen die gleiche Bedeutung. Sie war schon immer abhängig von Hautfarbe, Religion, sozialem Status oder finanzieller Macht. Das ist inhuman und falsch.


Auf Deutschland bezogen ist es nicht hinzunehmen, dass Artikel 1 verletzt und der Begriff Menschenwürde im Chaos der Krise ungefragt herabgesetzt wird. Freiheiten und Grundrechte gegen ein unbestimmtes Sicherheitsversprechen einzutauschen ist keine Option. Zudem gilt es in Zeiten der Globalisierung, auch in anderen Regionen der Welt ein gemeinsames Verständnis von Menschenwürde zu schaffen. Es kann nicht sein, dass in Indien, Afrika oder Südamerika andere Maßstäbe gelten als in Europa. Alle Menschen sind gleich. Würde kann daher auch nur eine einzige Definition haben, eine globale. Die »Allgemeine Charta der Menschenrechte« von 1948 muss endlich weltweit umgesetzt und angewandt werden.


Weiterhin ist es essenziell, Alternativen zu einem System zu entwickeln, das wir so vielleicht gar nicht mehr unterstützen wollen – weil es nicht für uns da ist, sondern von uns lebt und unsere Umwelt zerstört. Man kann eine Hydra nicht im Kampf besiegen, es wachsen neue Gliedmaßen nach, sobald ein Körperteil abgetrennt wurde, aber man kann aufhören die Hydra zu füttern. 


Wenn die Demokratie nicht wieder zu dem wird, was sie der Idee nach sein sollte, braucht es neue Konzepte. 


Meint, Menschen müssen eigene, lokale Netzwerke, Märkte und Zahlungsinstrumente entwickeln und implementieren. Dezentralisierung ist entscheidend, um Oligopole und Monopole zu untergraben, um ihnen ihre Position streitig zu machen. In der Konsumgesellschaft liegt die Macht beim Konsumenten, er festigt die Stellung der Konzerne am Markt. 


Die Politik ist mehrheitlich angetrieben von kapitalistischem Denken, wird massiv beeinflusst von Konzernen, Lobbyisten, Think Tanks und anderen nicht durch Wahl legitimierten Organen, deren Finanzierung oft nicht transparent ist. Von daher erscheint es umso wichtiger, das Konsumverhalten zu verändern als die Partei-Präferenz bei der nächsten Wahl. 


»Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt, und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.«  (Horst Seehofer bei Pelzig unterhält sich, 20.05.2010)


Zudem gilt es, die Sprache zu beschützen. Sie verbindet die Menschen einer Gesellschaft, wenn sie für alle die gleiche Bedeutung hat. Wenn Solidarität als Begriff neu besetzt und gegen Gruppen der Bevölkerung verwendet wird, die man pauschal aburteilt, ist das nicht akzeptabel. Ausgrenzung und Schubladendenken entstehen zuerst durch die Verwendung von Schlagworten, Buzz-Words und Slogans, die sich in der unkritischen Masse multiplizieren. 


Präzision in Sprache und Wortwahl ist somit elementar für gegenseitiges Verständnis. Wir brauchen einen offenen Diskurs aller Lager und öffentliche Streitgespräche mit unterschiedlichen Meinungen. Nur das erlaubt dem Menschen, seine Position in der Gesellschaft zu bestimmen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Wenn die etablierte Presse zunehmend vom Ansatz neutraler Berichterstattung abweicht, muss das kritisiert werden (dürfen). Meinung soll nicht gemacht werden, sie entsteht im Idealfall aus Abwägung aller Informationen. 


Es ist befremdlich, wenn die Kanzlerin einzelne Gruppen diffamiert und psychologische Betreuung empfiehlt, nur weil diese Kritik äußern, oder das offizielle Narrativ hinterfragen. Demokratie ist anstrengend und langsam. Solidarität steht nicht für blindes Vertrauen in Machthaber und Wissenschaft, die uns in der Vergangenheit immer wieder getäuscht und belogen haben, die meist eher um Wiederwahl und Finanzierung besorgt sind als um das Wohl der Wähler. Solidarität bedeutet aus meiner Sicht, dass man sich um das Wohl der gesamten Gemeinschaft sorgt – und das hängt primär ab von der Stabilität, Debattenfähigkeit und Offenheit der pluralistischen Gesellschaft. Daher sollte man sich als echter Demokrat über jede Demonstration freuen, statt diese als Ansammlung von Verrückten zu ächten, nur weil man eine andere Position vertritt. Die meisten Menschen haben dieselben Träume von der Zukunft, man muss ihnen aber zuhören, um sie zu verstehen.


Daher schließe ich diesen kleinen philosophischen Ausflug mit einem Zitat, das deutlich macht, wie wenig die oft als unfehlbar dargestellten Volksvertreter von den Menschen halten, die sie zu ihren Vertretern gewählt haben. Wollen wir solchen Menschen unsere Zukunft anvertrauen, oder diese wieder zu größeren Teilen selbst in die Hand nehmen? Mut, Courage und Flexibilität werden die wichtigsten Eigenschaften des neuen Jahres sein. Wir brauchen Kreativität und neue Ideen für eine gerechtere Welt, für ein würdevolles Dasein aller Menschen auf diesem Planeten. Aufwühlende Zeiten liegen vor uns – und ich freue mich darauf, darüber zu schreiben.


»Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.«  (Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission 2014-2019 in Die Brüsseler Republik, Der Spiegel, 27.12.1999)


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